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Archiv-Artikel

DINGE GESCHEHEN, DIE SIND SCHLIMM – SO SCHLIMM, DASS ALLE, DIE SIE KOMMENTIEREN, SICH VOR ALLEM BESSER FÜHLEN ALS DIE, DIE DIESE DINGE TUN Es nützt nichts

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Ein kleines Mädchen ist in Hamburg gestorben, vermutlich, weil es von seinem Vater totgeschlagen wurde. In Hildesheim ist ein 13-jähriger Junge von seinen Eltern in seinem Zimmer angekettet worden. Solche Schlagzeilen beherrschen vor allem die Boulevardpresse, und die Leute können dann ihre Kommentare dazu geben, weil das Sachen sind, die so schlimm sind, dass sich fast alle Eltern als bessere Eltern, sich fast alle Menschen als bessere Menschen fühlen können als die, die so etwas Schlimmes tun.

Es nützt nur nichts. Kommentare nützen nichts. Sich besser fühlen hat noch nie genützt, am allerwenigsten den eigenen Kindern, denen gegenüber man sich immer, und sei man die beste Mutter, auf die eine oder andere Art schuldig macht. Ich will eigentlich nicht über die Eltern, die ihr Kind totschlagen oder dabei zusehen, nachdenken. Es ist müßig. Solche Eltern müssen als Menschen so vollständig kaputt sein, dass man nur bedauernd die Achseln zucken kann. Dass sie bestraft werden müssen, weil unsere Gesellschaft nach dem Prinzip der Bestrafung und des Lobes regiert wird, ist nur gerecht, es ändert aber nichts daran, dass das Kind tot ist. Es ändert gar nichts, es macht nichts besser, es hilft niemandem weiter. Es dämpft vielleicht unsere Empörung, denn wir wollen die Tat gesühnt sehen. Obwohl auch uns das nicht weiterhilft.

Wenn möglicherweise das Jugendamt sich schuldig gemacht hat, weil das Jugendamt nicht vorbildlich seine Pflicht erfüllt, dann könnte man jemanden verantwortlich machen, der stark ist, eine Institution, einen Apparat, den Vater, den Staat. In Hamburg wird untersucht, ob dem so war. Vielleicht gibt die Struktur der Behörde, die langsamen Wege, die Schwäche einzelner Glieder in Form von Mitarbeitern, die Bürokratie der Vorschriften, so etwas wie einen Mitschuldigen her? Ich weiß es nicht und ich finde es gut, dass das jetzt untersucht wird und überlegt wird, wie künftig solche Unglücke verhindert werden können. Wenn man beim Jugendamt arbeitet, darf man nicht träumen, man darf keine Fehler machen, man muss hellhörig sein und die richtigen Entscheidungen treffen.

Solange aber Menschen diese Arbeit ausüben, prophezeie ich, werden immer wieder Fehler passieren. Solange Menschen Kinder bekommen, werden sie sie umbringen oder anketten und niemand wird das verhindern können. Die Welt ist nebenbei ganz schlimm, und daran wird sich nie etwas ändern, auch nicht, wenn ich in der Bild-Zeitung einen Kommentar hinterlasse. Auch nicht, wenn ich denke, ich bin besser als einer, der ein Kind umbringt.

Was man wirklich tun kann? Man kann sich um seine eigenen Kinder kümmern und seine eigenen Qualitäten als Eltern ab und an hinterfragen. Man kann im Treppenhaus lauschen, wenn man Geschrei hört. Man kann die Nachbarn fragen, ob es ihnen gut geht und ob sie Hilfe brauchen. Man kann die Nachbarn anzeigen. Man sollte die Nachbarn anzeigen.

Wenn die Strukturen beim Jugendamt hinderlich sind, wenn die Organisation tatsächlich mit schuld daran sein soll, dass ein Kind nicht rechtzeitig gerettet werden konnte, dann ist es nur richtig, dass daran gearbeitet wird. Aber die Angestellten beim Jugendamt, die die eigentliche Arbeit machen, sind so schwach und so stark, so fähig und so unfähig, nur an manchen Tagen oder immer, aus Gründen fehlender Kompetenz oder aus gesundheitlich-privaten Gründen, wie ein Mensch am Arbeitsplatz eben ist. Man kann sie nachträglich entlassen, man kann sie zur Verantwortung ziehen, man kann vielleicht manchmal die Guten ein bisschen mehr loben für die harte, verantwortungsvolle Arbeit, die sie machen, aber perfekt machen kann man sie nicht. Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen