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Archiv-Artikel

DIETER BAUMANN ÜBER LAUFENKAUM LIEGT SCHNEE, WIRD DIE LAUFSTRECKE ZUR LOIPE UND DER LÄUFER ZUR OLYMPIONIKIN Behle ist mir egal, ich bin Magdalena Neuner!

Die Laufstrecke Nr. 1 von Tübingen war zur Langlaufloipe geworden. Unzählige Spaziergänger hatten den Schnee platt getreten und kurz vor Einbruch der Dunkelheit war es kalt geworden, so dass der Schnee hart gefroren war. Ideale Bedingungen also zum Skaten. Die ersten Tage der Olympischen Spiele hatten mein Sohn und ich gebannt vor dem Fernseher verbracht und nun war es ein Leichtes, ihn zu überreden, mit mir eine Runde skilanglaufen zu gehen.

Von der Haustür weg. Die Profis in Kanada hätten uns um diese tollen Schneebedingungen beneidet. Und kaum waren wir auf den Brettern, legte mein Sohn im Skatingschritt los. Links, rechts – Stock. Wahlweise probierte er einen Einer- oder Viererrhythmus. Die Bilder aus Vancouver verfehlten nicht ihre Wirkung. „Ich bin Magdalena Neuner.“ Dann wechselte er die Stimmlage: „Sie ist in Führung, zwanzig Sekunden, wird es die Goldmedaille für Deutschland?“ Ich hastete hinter ihm her und schon waren wir echte Olympioniken. Wir kämpften um jede Sekunde.

Zugegeben, die Rolle war mir nicht ganz fremd. Doch diese Waldrunde kannte ich bis dahin nur mit Laufschuhen an den Füßen und muss gestehen, das ist viel einfacher. Skilanglauf ist nicht die Sportart Nr. 1 in unserem Haus. Im Grunde machen wir das nie. Unsere Technik ist deshalb auch nicht gerade ausgefeilt.

Wir verhaspelten uns mit den vielen Stöcken in den vielen Skiern, wir fädelten ein, stolperten. Dann das Zeitgefühl! Ich hatte das Gefühl, meine Laufrunde ist länger geworden und die Landschaft völlig verändert. Mit nur zwei Skiern an den Beinen ein völlig neuer Wald. Liebe Läuferinnen und Läufer – einfach mal probieren. Toll.

Als sich mein Sohn gerade einen kleinen Anstieg hochkämpfte, wechselte ich meine Stimmlage und war Kommentator. Allerdings fällt mir bei Skilanglauf immer nur Jochen Behle ein. „Und jetzt müsste Behle kommen“, trug ich mit Grabesstimme vor. „Wer ist Behle?“, rief mein Sohne über die Schulter zurück. „Mein Lieber, Behle ist Sportgeschichte“, sagte ich und fuhr mit tiefer Stimmer fort: „Wo ist Behle, meine Damen und Herren? Oh, da kommt er und – oh – er sieht müde aus.“

Während auch ich den Anstieg hochkämpfte, versuchte ich zu erklären, wer Behle ist. „Zu meiner Zeit war das der große Mann. Berühmt geworden durch?“, in diesem Augenblick fädelte ich mit dem Ski in meinen Stock und lag im Schnee.

Mein Sohn schaute zurück, hielt an und lachte. Im Liegen ergänzte ich: „Berühmt geworden durch diesen Fernsehkommentar. Ganz Deutschland wartete auf Behle. Die Kamera war auf eine Skilanglaufspur gerichtet, eine einsame Spur im Wald. Und dort war er verschollen, Jochen Behle.“ Mein Sohn schmiss sich neben mir bäuchlings in den Schnee. „Behle ist mir egal, ich bin Magdalena Neuner.“

Er zog einen Skistock als Gewehrersatz nach vorne und zielte. Er schoss fünfmal auf eine imaginäre Zielscheibe, sprang auf und nahm hastig seinen Skatingschritt wieder auf. Natürlich sprang ich auf und hinter ihm her. Nach nur wenigen Minuten schmiss er sich abermals in den Schnee. Ich hechtete mich dazu.

Im Geiste sahen wir vor uns die Zielscheiben. Kurz atmeten wir durch. Der Puls war hoch und es war mir nur allein bei dieser Trockenübung unmöglich, meinen Skistock ruhig zu halten. Nach fünf Schuss rief er beim Aufstehen: „Du hast zwei Fehlschüsse – zweimal in die Strafrunde.“ Und mit tiefer Stimme brüllte er: „Neuner ist in Führung, kann sie diesen Vorsprung halten?“ Er fing an zu lachen, war schon wieder im Skatingschritt auf der Piste. DIETER BAUMANN

Hinweis: LAUFEN Fragen zu Goldmedaillen? kolumne@taz.de Morgen: Joachim Lottmann MARX 2.0