DIESE MENSCHEN LEBEN SO SUPER AUF KOSTEN ANDERER. SO KOMFORTABEL. DASS KINDER IHREN KAFFEE ERNTEN UND IHRE HOSEN NÄHEN : Durchfüttern und durchfüttern lassen
Gerade ist es alles widerlich, in der europäischen Welt. Gerade kommt der Frühling und gerade blüht und duftet es und wärmt sich alles auf. Gerade haben wir wieder Sonne auf der Haut und sitzen das erste Mal draußen auf der Decke. Wir trinken das erste Draußenbier und frösteln ein bisschen. Haben den Sommer noch vor uns. Und immer noch große Erwartungen. Aber das Jahr ist schon alt, der Frühling schon verdorben. Ich weiß nicht, ob es am Alter liegt, aber Menschen sind mir immer wieder verhasst.
In Lingen im Emsland hat ein Mann sich selbst angezündet, weil er abgeschoben werden sollte. Man kann und will es sich eigentlich nicht vorstellen, weil das Selbstanzünden ein so unverstellbar schmerzhafter und grausamer Vorgang ist. Wer sich schon mal nur am Finger verbrannt hat, der weiß das. Jedes Kind weiß das. Und wer das tut, aus welchen Gründen auch immer, der ist verzweifelt. Der sieht keinen Ausweg mehr aus einem Drama, von dem niemand von denen, die sich anmaßen, Einschätzungen einer persönlichen Situation nur aus wenig bekannten Fakten her abzuleiten, auch nur einen Funken Ahnung haben kann.
Egal, wie die Bedingungen in Marokko sind, ein Mensch, der sich selbst so schwer verletzt, hat nichts als Mitleid verdient und ein anderer Mensch, der dazu nicht in der Lage ist und stattdessen hasst und verurteilt, dem fehlt so vieles, was einen Menschen eigentlich ausmachen sollte. Ich wünschte, ich könnte all denen den Mund verbieten, die ihren Dreck über die Welt ausschütten, denn sie sind Mitschuld daran, dass die Welt nicht besser ist. Ich bin auch in diesem Zusammenhang und immer wieder für die Abschaffung der Kommentarfunktion. Wenn ich eine Zeitung wäre, dann würde ich sagen, macht das bei euch zu Haus! Gebt selber eine Zeitung heraus und erzählt da, was ihr wollt. Aber pinkelt nicht in meinen Eingang. Aber das nur am Rande.
Der Mann, ein sechsunddreißigjähriger Marokkaner, sollte nach Bulgarien abgeschoben werden, von wo er einreiste. So sehen die Gesetze das wohl vor. Er hat sich auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt angezündet. Er wollte lieber sterben, als abgeschoben werden.
Das scheint ein egoistischer Typ gewesen zu sein, der sich nicht mit den Gesetzen anfreunden konnte, der unbedingt seinen sturen Kopf durchsetzen wollte, obwohl es ihm doch in Marokko ganz ausgezeichnet gehen musste. Das alles wissen die schlauen Menschen, die sowieso alles immer besser wissen, die sich im Supermarkt, vor dem sich Asylbewerber anzünden, ein billiges Brot kaufen und eine Hose von Tchibo und ein Feuerzeug aus China. Die sparen, wo es nur geht, außer am Urlaub und außer am Auto. Die immer von denen sprechen, „die hier reinwollen“. Und die sie nicht „durchfüttern“ wollen. Nicht einsehend, dass sie selber sich durchfüttern lassen, von Billiglohnarbeitern aus Billiglohnländern. Dass sie auf Kosten von denen hier so super leben. So komfortabel. Dass deren Kinder ihren Kaffee ernten und ihre Hosen nähen. Dass die sich für uns in den Färbereien selbst und ihren Lebensraum vergiften für unsere bunten Klamotten.
Weil sie nicht einsehen wollen, dass dies hier eine einzige Welt ist und dass es nur aufgrund von Ungerechtigkeiten zu Verschiebungen und Menschenflucht kommt. Die Welt ist komplex und vielleicht nicht leicht zu verstehen, was aber leicht zu verstehen ist, das ist die Tatsache, dass ein Mensch, der sich freiwillig auf ein derart überladenes Boot setzt, um über ein Meer zu fahren, dass ein Mensch, der ein Feuerzeug an sich selbst hält, dass so ein Mensch keine bessere Alternative mehr sehen konnte und dass er nichts als Mitgefühl verdient hat und dass er als Mensch, dessen Verbrechen nur darin besteht, woanders leben zu wollen, Hilfe benötigt. Das ist ganz einfach. Das ist nicht mehr komplex. Das ist ganz leicht zu verstehen, und mit einem Minimum an Empathie auch nachzufühlen. Denn wer Angst hat, etwas von seinem Wohlstand abgeben zu müssen, der kann nicht jemand anderem vorwerfen, dass der Entscheidungen aufgrund von materiellem Mangel trifft. Der sollte im Gegenteil, besonders viel Verständnis für „Wirtschaftsflüchtlinge“ aufbringen können.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.