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DIE WALLERTS SIND FREI – ABER DAS DRAMA AUF JOLO GEHT WEITERSumpf aus Rechtlosigkeit und Armut

Die quälenden Monate der Gefangenschaft im Dschungel von Jolo sind für die Göttinger Familie Wallert endlich zu Ende. Als Letzter kam am Sonnabend Sohn Marc frei. Wie glücklich und erleichtert die Wallerts jetzt sind, lässt sich nur erahnen.

Aber das Drama ist längst nicht vorbei: Die Abu-Sayyaf-Gruppe und andere Kidnapperbanden halten im Süden der Philippinen immer noch mehr als ein Dutzend Männer und Frauen fest. Kaum die Rede war in den letzten Stunden von dem philippinischen Tauchlehrer, der ebenfalls am Ostersonntag von der Insel Sipadan verschleppt worden war. In Geiselhaft sitzen zudem zwei französische TV-Journalisten, ein Amerikaner sowie zwölf evangelische Fundamentalisten, die freiwillig zu den Abu Sayyaf gezogen waren. Darüber hinaus wurden in der Zwischenzeit mindestens drei Frauen als „Zwangsehefrauen“ auf Jolo gekidnappt.

Was wird aus diesen Menschen? Ihre Überlebenschancen sind gering, falls das Militär nun zuschlägt, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Im Juli, als mein Mann, der Spiegel-Korrespondent Andreas Lorenz, entführt war, habe ich inständig gehofft, dass es nicht zu einer Schießerei kommen würde. Ich habe all die Politiker, Armeesprecher und Zeitungskommentatoren in Manila und in Deutschland zum Teufel gewünscht, die nach einer gewaltsamen Lösung riefen. Dabei war mir das Dilemma wohl bewusst, in dem alle stecken, die mit Entführungen zu tun haben: Wer nicht schießen will, muss zahlen. Und wer nicht zahlen will, nimmt in Kauf, dass – wie in Jolo bereits geschehen – das Opfer ermordet wird. Gleichzeitig heizt jedes Zugeständnis an die Gangster das Kidnapping-Geschäft an. Jeder Dollar an Lösegeld stärkt die Verbrecher und macht die Region, die ohnehin schon von Waffen starrt, noch unsicherer.

Wie soll man sich in diesem Dilemma verhalten? Es gibt keine allgemein gültige Antwort. Aber es ist zu befürchten, dass es künftig immer häufiger zu solchen Entführungen kommt. Schon das vergangene Jahr war ein Rekord-Geschäftsjahr für professionelle Kidnapper weltweit: Die Zahl der Opfer stieg steil an, ebenso die Höhe der erpressten Summen. Die Täter sind besser bewaffnet, sie nutzen Satellitentelefone und das Internet.

Besonders in Ländern wie den Philippinen wurde bislang kaum jemals ein Geiselnehmer geschnappt. Die Opfer können nicht hoffen, ihre Peiniger auf der Anklagebank zu sehen. In Jolo zum Beispiel gibt es gar keinen Richter. Zu Verhandlungen reisen die Juristen mit schwer bewaffneten Leibwächtern an. Zeugen sind rar: Wer gegen die Gangster aussagen will, spielt mit seinem Leben. Es gibt keine Gerechtigkeit. Denn es gibt keine Regierung, die das Recht schützen kann oder will. Wenn sich der – gewählte – Gouverneur von Jolo und sein Stellvertreter streiten, lassen sie ihre Privatarmeen aufeinander schießen. Es ist der Sumpf aus Rechtlosigkeit und krasser Armut, in dem die Kidnapping-Industrie gedeiht. Dies gilt auf den Philippinen ebenso wie in Kolumbien oder im Jemen. Im Krankenhaus von Jolo kostet eine Entbindung umgerechnet fünf Mark, und schon das ist für viele Mütter zu viel. Wer, wie die Kidnapper, einen gut bezahlten Job anbietet, hat deshalb immer Zulauf.

Die Not und Verzweiflung sind so real wie die Angst der Geiseln, in der Hand ihrer Entführer umzukommen. Die Schießerei bei der Befreiung der vier Europäer am Samstag, bei der ein Leibwächter starb, ist der jüngste Beweis dafür. Deshalb war es für mich in den letzten Wochen umso erschreckender, in Deutschland die Reaktion auf die Entführung der Wallerts und ihrer Leidensgenossen zu verfolgen. Die Diskussion, ob Renate Wallert sich richtig verhalten hat, als sie Jolo verließ, die Debatte, ob Journalisten selbst schuld an ihrer Entführung seien, gehen an der Realität vorbei.

Dass es oft an Respekt und Einfühlungsvermögen für die Lage der Opfer mangelte, hängt wohl damit zusammen, dass TV-Produktionen wie „Inselduell“ oder „Big Brother“ hoch im Kurs stehen. Gefangenschaft und Dschungellager werden als Spiel und Abenteuer dargestellt, der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Show ist immer mehr verwischt. Nicht nur für die restlichen Geiseln, sondern auch für die Bewohner der Insel herrscht jetzt die größte Gefahr seit Beginn der Entführungswelle vom Frühjahr. Die Kämpfe um einen Anteil an der Beute unter den Kidnappern haben begonnen. Ein Militärschlag ist abzusehen. Er wird viele Menschenleben kosten. JUTTA LIETSCH

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