DIE WAHRHEIT: In der Knochenmühle von Wacken
„Wacken ist ein Arschloch“, heischt mich ein Schlammspringer böse an, bevor ihn seine erdfarbene Bezugsgruppe erneut am Wickel hat und mit dem Kopf ...
Wacken ist ein Arschloch“, heischt mich ein Schlammspringer böse an, bevor ihn seine erdfarbene Bezugsgruppe erneut am Wickel hat und mit dem Kopf zuerst in den schätzungsweise anderthalb Meter tiefen Modder drückt. Schöne Ganzkörperabdrücke gibt das, man müsste nur zwei mit Kordel verbundene Messingständer davorstellen, dann würde sich endlich auch der internationale Kunstmarkt auf dem Wacken Open Air einfinden. Der fehlt hier gerade noch, alle anderen sind nämlich längst da.
Die Mallorcisierung der besten Subkultur aller Zeiten hat hier solch ein Ausmaß angenommen, dass man weinen müsste, wenn das nicht schon der Donnergott da oben für einen täte. Man kann sich den widerlichen Mittelaltermummenschanz, die diversen Blankziehoptionen und Torfrock natürlich schenken und einfach nur laute Musik hören, aber bei schleswig-holsteinischem Starkregen macht auch das nur halb so viel Spaß. Dem Zeltplatzsoziotop kommt dann eine besondere Aufgabe zu. Hier wird wieder zusammengeleimt, was das Wetter und die Kirmesknochenmühle kaputt gemacht haben.
Ein steinalter Open-Air-Veteran, dessen aberdutzend Einlassbändchen längst ins Unterarmfleisch eingewachsen sind, mahnt zur Gelassenheit. „Man darf sich nicht täuschen. Das hier ist vielleicht körperlicher Wahnsinn, aber geistige Entspannung.“
„Na sichi, Alter“, sagt Helge, der heute sein fünftes „W:O:A“-Bestehen feiert und folglich die Ron-Wood-Position besetzt. Er ist „der Neue“. So erklärt sich auch sein Eifer, als der alte Haudegen sich nach unserer „Bude“ erkundigt. „VW Multivan, Highline“, ruft er aufgeregt, „spermwhite, selbstgespritzt, mit pussy magnet und dick-o-matic.“
Aber der alte Mann hat schon zu viel gesehen, um sich von solchem weltlichen Tand beeindrucken zu lassen. „Das letzte Auto ist immer ein Combi.“
„Auf jeden, Alter.“ Helge nickt, als hätte er verstanden. Aber er will ja lernen, und so fragt er den Festival-Weisen nach den Unterschieden zwischen Roskilde, Sweden Rock, Wacken und all den anderen Großereignissen. Da rückt der rüstige Mittsiebziger sein perlenbesetztes Stirnband zurecht und schaut den Novizen ernst an. „Du fragst nach dem Unterschied?“, sagt er und erzählt eine kleine Geschichte. „Wenn in Deutschland ein Wal strandet, dann kommt erst mal der Katastrophenschutz. In Skandinavien ist das anders, da stellen die zunächst einen Kiosk und eine Würstchenbude auf. Die Versorgung der Bevölkerung muss gewährleistet sein.“
„Is ja’n Träumchen“, meint Helge beeindruckt, um sich dann zu erheben und irgendwelchen Metalcore-Berserkern trotz dräuender Schwarzwolken die Aufwartung zu machen. „Rinnjeschallert“, ruft er zum Abschied, und danach wird es erst einmal ruhig in unserer Sitzgruppe. Das fällt auch einer jungen Dame auf, die nun vorbeidefiliert, im schwarzen Lederbikini mit vielen diabolischen Bildchen auf dem Bauch, und die entsprechend bestaunt wird. Sie schaut nur kurz herüber und weiß sofort Rat. „Trinkt mal was!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist