DIE TÜRKEI STELLT SICH AUF DIE SEITE DER USA – SIE HAT KEINE ALTERNATIVE : Europa kommt zu spät
Die Situation ist paradox. Da streiten offenbar die Türkei auf der einen und Frankreich, Deutschland und Belgien auf der anderen Seite um den Schutz der Türkei im Kriegsfall. Es scheint, als wollten die Führungsmächte der Europäischen Union die Türken hängen lassen. „Schändlicherweise“, wie US-Kriegsminister Rumsfeld meint. Das Paradoxe ist, dass sich innerhalb der Nato plötzlich Länder im Streit gegenüberstehen, die sich in der Sache völlig einig sind. Wie Deutschland und Frankreich gehört auch die Türkei zu den Ländern, die einem US-Angriff auf den Irak am heftigsten widersprochen haben. Dass sich die Türkei nun trotzdem im amerikanischen Lager wiederfindet und sogar als Speerspitze gegen das „alte Europa“ herhält, ist ein weiterer diplomatischer GAU für die EU.
Erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es innerhalb der Nato einen tief gehenden Interessenkonflikt zwischen den USA und etlichen europäischen Ländern. Nachdem man in den letzten 12 Jahren jeden US-Schwenk mitgemacht hat, gehen jetzt die Vorstellungen in der Frage des Nahen Ostens diametral auseinander. Und heillos überfordert ist vor allem die Bundesregierung: Sie kann keine wirkungsvolle Widerspruchsfront gegen die Bush-Administration aufbauen. Der US-Präsident hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Kopf von Saddam und die Kontrolle über den Irak will. Für dieses Ziel ist er bereit, die immensen politischen und militärischen Machtmittel der USA einzusetzen. Deutschland und Frankreich haben viel zu lange gezögert, dem ein politisches Konzept entgegenzustellen. Vergeblich haben die kleineren Länder innerhalb der EU und der Nato darauf gewartet, dass Deutschland und Frankreich eine glaubwürdige Alternative präsentierten, und so blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als sich dem Druck und den Verlockungen Washingtons zu beugen.
Das trifft vor allem auf die Türkei zu. Unter massivem Druck aus Washington und ohne europäische Alternative musste sich die türkische Regierung den Kriegsplänen der USA beugen, und sie geht dabei angesichts der Stimmung im Lande ein hohes Risiko ein. In Ankara hat man deshalb auch den Eindruck, Berlin und Paris pokerten in einem verlorenen Spiel auf Kosten der Türkei. Damit werden künstlich Gräben ausgehoben – die tatsächlichen politischen Interessen spiegeln sie nicht wider. Wären Frankreich und Deutschland vor einem Monat mit einem ausgereiften Alternativplan in der Nato angetreten, hätten sie die Türkei und andere vielleicht noch auf ihre Seite ziehen können.
JÜRGEN GOTTSCHLICH