DIE TÜRKEI BEKENNT SICH ZÖGERND ZUM GENOZID AN DEN ARMENIERN : Demokratisierung gegen Tabus
Weltweit gedenken heute Armenier des Genozids an ihrem Volk im Osmanischen Reich 1915. Zu Recht beklagen sie, dass dieser erste Völkermord im 20. Jahrhundert bis heute im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit kaum präsent ist. Dabei richtet sich der Zorn der Armenier vor allem gegen die Türkei. In der Tat hat bislang noch jede türkische Regierung seit Gründung der Republik 1924 bestritten, dass am armenischen Volk während des Ersten Weltkrieges ein Genozid verübt wurde. Das ist offiziell immer noch so, doch in der Gesellschaft und in den Medien gibt es Bewegung. Mit fortschreitender Demokratisierung lassen sich jahrzehntelange Tabus wie die Kurden- oder eben auch die Armenierfrage nicht mehr so einfach aufrechterhalten, außerdem zwingen internationale Entwicklungen zu neuen Reaktionen.
Seit 1991 existiert ein Staat Armenien, zu dem die Türkei sich verhalten muss. Dazu kommt, dass in Frankreich, den USA und Griechenland in den letzten Jahren über den Völkermord an den Armeniern selbst in den Parlamenten diskutiert wurde und nicht zuletzt deshalb die EU die Türkei immer häufiger danach fragt, wie sie mit ihrem christlichen Erbe umzugehen gedenkt.
Anders als viele Exilarmenier hat die armenische Gemeinde in der Türkei viel mehr Interesse an der Zukunft als an der Vergangenheit. Genauso wie die orthodoxen christlichen Gemeinden wollen die Armenier, dass sie ohne Einschränkungen ihre Kirchen pflegen können, ihre Schulen nicht angetastet werden und die Ausbildung von Priestern nicht behindert wird. Gerade in diesen Fragen hat sich in letzter Zeit einiges getan. Die neue, islamisch grundierte Regierung in Ankara ist bereit, die Sorgen der christlichen Minderheiten eher zu berücksichtigen, schon weil sie in eigenem Interesse für mehr religiöse Freiheit eintritt. Noch ist die politische Elite der Türkei weit davon entfernt, schmerzhafte historische Wahrheiten wirklich zuzulassen, aber ein Anfang ist gemacht. Eine veränderte Praxis heute wird in Zukunft auch die Bewertung der Vergangenheit einfacher machen.
JÜRGEN GOTTSCHLICH