DIE TALIBAN IN AFGHANISTAN SIND KEINE ZENTRALISIERTE BEWEGUNG : Vielstimmige Entführer
Die Strategie der Taliban-Führung, offensiv über die Medien politischen Druck auf die Entsendeländer von Soldaten und Entwicklungshelfern nach Afghanistan zu erzeugen, hat ihre eigenen Schwächen offengelegt. Schon länger wird vermutet, dass Mulla Omars PR-Abteilung Tag und Nacht am Radio klebt und im Internet browst, um rechtzeitig alle Entführungen, Selbstmordattentate und Hinterhalte im Lande für sich reklamieren zu können. Eine ganze Reihe falscher Aussagen des „zuständigen“ offiziellen Taliban-Sprechers (etwa, dass bereits beide Entführte tot seien) hat im Fall der deutschen Ingenieure verdeutlicht: Die behauptete Kontrolle der Taliban über die vielfältige Aufstandsbewegung existiert nicht.
Mulla Omars in Pakistan sitzender Taliban-Rat versucht zwar, die Befehlskette aufrechtzuerhalten, oft aber bestimmen letztlich individuelle Feldkommandeure. Einige stehen mit einem Bein im kriminellen Milieu. Sie telefonieren mit den Nachrichtenagenturen – Handys und SIM-Karten gibt es ja auf jedem afghanischen Dorfbasar, gleich neben den Melonen – und scheren sich nicht um Qari Ahmad Yussufi und Nabihullah Mudschahed. Die mögen für ihren Chef sprechen, für alle Taliban im Feld sprechen sie nicht. Dann gibt es noch die aufständischen Nichttaliban. Diese Erkenntnisse könnten dazu beitragen, die Taliban zu entdämonisieren und mit den Aufstandsgruppen unterschiedlich umzugehen. Einige sind nur militärisch zu bekämpfen. Andere könnten durch Reformen wieder dem politischen Mainstream angenähert werden. Dritte – etwa Geiselnehmer – müssten die harte Hand des Gesetzes spüren.
Aber genau das funktioniert nicht in Afghanistan. Die Richter sind oft unfähig, korrupt oder beides. Aus der Haft kann man sich freikaufen, oder man ruft gleich seinen Hintermann in Kabul an. Das verweist auf erhebliche rechtsstaatliche Defizite – fast sechs Jahre und mehrere Milliarden Dollar nach „Präsident“ Mulla Omar. THOMAS RUTTIG
Der Autor ist Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik