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Archiv-Artikel

DIE SITUATION IN WEISSRUSSLAND IST NOCH IN DER SCHWEBE Der Augenblick der Entscheidung

Weißrussland ist für Überraschungen gut. Ein paar hundert Demonstranten halten aus. Obwohl ihre Zahl weniger eindrucksvoll ist als einst in Georgien oder der Ukraine, vermögen sie doch eine scheinbar stabile Diktatur zu verunsichern, die ein nahezu sowjetisches Wahlergebnis mit nahezu sowjetischen Methoden herbeigeführt hatte.

Ohne die Entschlossenheit und den Mut solcher Demonstranten wäre es nirgendwo auf der Welt zu Regimewechseln gekommen. Über ihren Erfolg aber entscheidet erst die große Menge der Opportunisten. Wenn sie sich der Opposition anschließen, hat die Diktatur verloren.

Gewiss gibt es in Weißrussland nur einen bislang schwach verwurzelten weißrussischen Nationalismus und eine überwiegend fatalistische Bevölkerung, die sich gerne durch einen starken Mann leiten lässt. Daraus aber zu schließen, Lukaschenko hätte die Wahlen wirklich gewonnen, wäre voreilig. Verlässliche Meinungsumfragen kann es in Diktaturen nicht geben, und Meinungen können umschlagen. Sobald das Regime zu straucheln scheint und die Opportunisten die Seite wechseln, werden auch die Repressionsapparate milder. Die größte Gefahr besteht in den Augenblicken unmittelbar davor, wenn die Diktatur den Schein von Stabilität aufrechterhalten zu können glaubt.

In Minsk scheint der Augenblick der Entscheidung zu kommen. Darauf deuten etwa das Beharren der Demonstranten und – so zynisch es klingen mag – die für diktatorische Verhältnisse jetzt relativ zurückhaltende Repression hin. Dass der Westen nicht präsent sei, ist dabei eine optische Täuschung. Schon die Anwesenheit von OSZE-Beobachtern und westlichen Medien war und ist wirksam. Die Reisebeschränkungen seitens der EU verstärken darüber hinaus innerhalb Weißrusslands den Eindruck von einer Schwäche des Regimes.

Wie unentschieden die Situation doch noch ist, zeigen die Demonstranten, indem sie mehr westliche Solidarität einfordern. Sie antizipieren damit aber auch ihre künftigen Enttäuschungen, die sich nach dem Frontwechsel der Mehrheit und im Aufbau einer neuen politischen Gesellschaft nicht vermeiden lassen. ERHARD STÖLTING

Der Autor lehrt Soziologie an der Universität Potsdam.