DIE PROTESTE IN UNGARN ZEIGEN DIE SPALTUNG DER GESELLSCHAFT : Konträre Wirklichkeiten
„Unsere großen Parteien sind so, als hätten die Protagonisten des deutschen Historikerstreits eigene Parteien gegründet.“ So versucht ein ungarischer Intellektueller verständlich zu machen, warum die regierende MSZP und die oppositionelle Fidesz einander so unversöhnlich gegenüberstehen. Man gehe von ganz verschiedenen Interpretationen der Wirklichkeit aus. Und die Spaltung zieht sich mitten durch die Gesellschaft. Als drei deutsche Parteistiftungen kürzlich vorschlugen, mit ihren jeweiligen Partnerparteien ein gemeinsames Forum zu veranstalten, trafen sie auf völliges Unverständnis. Gemeinsames Auftreten – auf diese Idee war in Ungarn noch keiner gekommen. Und in Zukunft wird das nicht leichter.
Auf der einen Seite steht die urbane MSZP, die sich sozialistisch nennt, sich aber wie Labour unter Tony Blair nach Europa orientiert und für neoliberale Reformen eintritt. Premier Gyurcsány hält diese nicht nur ökonomisch für unausweichlich, sondern stellt das Erzieherische in den Vordergrund: Die Ungarn, gewohnt, dass Vater Staat sich um alles kümmert, sollen Eigenverantwortung lernen. Auf der anderen Seite Fidesz, eine in der Provinz beheimatete Partei, die gesellschaftspolitisch rechts steht, aber wirtschaftspolitisch die Reize des Kadarismus entdeckt hat. Ministerpräsident János Kádár, der Ungarn nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956 bis knapp vor der Wende regierte, steht für ein System, in dem zwar die Freiheiten beschränkt waren, aber alle sicher und relativ bequem lebten.
Bisher haben sich die großen Parteien in unterschiedlichen Koalitionen in schöner Regelmäßigkeit an der Macht abgelöst. Durch die „Umerziehung“ der Ungarn strebt der Premier aber mittelfristig einen Mentalitätswechsel an, der es ihm erlauben würde, eine Hegemonie der Sozialdemokratie zu etablieren, ähnlich wie sie in Schweden bestand. Das lässt sich aus der umstrittenen Balaton-Rede Gyurcsánys herauslesen. Für Viktor Orban und seine zunehmend altmodische Fidesz geht es bei den Protesten daher um mehr als nur den nächsten Regierungswechsel. RALF LEONHARD