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Archiv-Artikel

DIE PFLEGEREFORM WIRD VERSCHOBEN, WEIL IHRE LOBBY ZU SCHWACH IST Für die Jungen, gegen die Alten

Wie schön, dass der Kanzler so klare Prioriäten hat. In diesem Jahr stehen auf seiner Agenda ganz oben: Kinder, Bildung, gute Unis. Wer wollte dagegen sein? Nicht zumutbar findet der Kanzler dagegen eine weitere Sozialdebatte. Darum hat er die Reform der Pflegeversicherung, von rot-grünen Abgeordneten und dem Ministerium bereits angebrütet, aus dem Regierungsnest gekickt. So will Schröder eine weitere Umverteilungsschlacht in den Sicherungssystemen vermeiden.

Diese Entscheidung ist politisch richtig und sachlich falsch. Tatsächlich hätte eine Pflegereform die Umfragewerte der SPD in weitere Tiefen gedrückt. Wenn nun noch die Rentner, deren Kinder aus dem Haus sind, für die Pflegeversicherung den Nichterziehenden-Zuschlag von monatlich 2,50 Euro hätten zahlen müssen und wenn ihnen überdies gesagt worden wäre, dass sie als künftige Heimbewohner nur halb so viel Geld wie jetzige Heimbewohner bekämen – das Wutgeheul der Boulevardpresse klingt schon bei der Lektüre der Details in den Ohren.

Damit jedoch vertagt der Kanzler eine Reform, die ebenso notwendig ist, wie es die Gesundheitsreform war. Denn die Pflegeversicherung verliert an Wert: Seit ihrer Einrichtung 1995 sind die steigenden Kosten vor allem für Personal nicht berücksichtigt worden. Also müssen sich immer mehr Menschen die begrenzten Ressourcen teilen. Und mit dem steigenden Anteil Hochbetagter in der Gesellschaft wächst auch der Anteil geistig Verwirrter, deren Pflege ohnehin kaum vergütet wird.

Im Gesundheitswesen funktionieren die Interessengruppen brillant und halten die Politik auf Trab. Ein Wimpernzucken von Sozialministerin Ulla Schmidt ruft sofortige Presseerklärungen mächtiger Verbände hervor. In der Pflege dagegen arbeiten Töchter, Schwiegertöchter, Nichten, schlecht verdienende und unorganisierte Frauen und Hilfskräfte, und es leiden vor allem uralte Menschen. Eine gut aufgestellte Lobby sieht anders aus. Schröder hat sich die einfachste Lösung ausgesucht. Ohnehin ist die Entscheidung gegen die Pflegereform eine Entscheidung für das Profilierungsthema Bildung und für eine gute Presse. Das ist schlau, aber beschämend. ULRIKE WINKELMANN