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DIE NEUE VÖLKERWANDERUNGDie Seiteneinsteiger kommen

Die Immigration in die USA hat Kontinuität, doch dahinter verbergen sich bedeutsame Veränderungen. Die heutigen Neueinwanderer sind längst nicht alle unqualifiziert. Die Folge: verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, aber auch – im Zuge des Entstehens identitätsstiftender Gruppen – eine größere Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten.  ■ VON MICHAEL J. PIORE

Ein gängiges Klischee besagt: Die Vereinigten Staaten sind eine Nation von lauter Ausländern! Und in der Tat stimmt dieses Klischee, heute ebenso wie in der Vergangenheit. Die Neueinwanderung läuft auf höheren Touren denn je seit Beginn dieses Jahrhunderts. Aber diese offensichtliche Kontinuität verschleiert bedeutende Veränderungen. Die Einwanderungswellen der Vergangenheit folgten einem bestimmten, gemeinsamen Muster: Wenig oder unqualifizierte Arbeitskräfte strömten in die Jobs, die von den mittlerweile naturalisierten Amerikanern weitgehend abgelehnt wurden. Viele dieser Immigranten wollten ursprünglich nur vorübergehend bleiben, hatten die Idee, einen anständigen Batzen zu sparen und dann damit nach Hause zurückzukehren: Dort sollte investiert werden. Da ihr Engagement in den USA vorübergehend sein sollte, war das ein wesentlicher Faktor dafür, Arbeiten zu akzeptieren, die die Einheimischen verweigerten. Eben weil sie nicht bleiben wollten, waren die Immigranten nicht an Arbeitsplatzsicherheit und Aufstiegschancen interessiert. Und weiter: weil ihr sozialer Status durch ihre Stellung im ursprünglichen Heimatland definiert war, kratzte sie die niedere Arbeit, die sie in den Vereinigten Staaten verrichteten, relativ wenig. Aber trotz all dieser Heimkehrpläne blieb ein großer Teil der Immigranten für lange Zeit oder ganz. Sie – und noch stärker ihre Kinder, die schon in Amerika aufgewachsen waren und sich nun auf Dauer im amerikanischen Arbeitsmarkt einrichteten – sahen nun immer mehr ihre Arbeitsplätze mit den gleichen Augen wie die einheimischen Amerikaner, suchten für sich ähnliche Beschäftigungsverhältnisse und Aufstiegschancen und brachten so Fremde und Einheimische in eine verschärfte Konkurrenz gegeneinander. Das war dann auch der Zeitpunkt, an dem die Amerikaner begannen, den Immigranten zunehmend mit Mißtrauen und Ambivalenz zu begegnen. Daraus entwickelten sich in periodischen Abständen rassistische Bewegungen und Ausschreitungen gegen die Einwanderer.

Im Unterschied zu den Europäern definieren sich die Amerikaner alsSchmelztiegelnation.Aber insbesondere wenn man an die schwarzen Arbeitskräfte im Norden als eine Migrantenpopulation denkt, darf daran gezweifelt werden, ob die Einwanderung in Nordamerika so viel sanfter vonstatten ging als in Westeuropa. Und in der Tat war es so, daß der „Schmelztiegel“ sich immer wieder gegen eine ganz andere Interpretationsvariante des amerikanischen Ethos behaupten mußte, die mit entsprechend anderen Definitionen der nationalen Einwanderungspolitik antritt. Für diese Position wurzelt der sittliche Gehalt des amerikanischen Charakters in der angelsächsischen oder doch zumindest nordeuropäischen protestantischen Kultur, der die Einwanderer aus Lateinamerika, Zentral-, Südeuropa und Asien als völlig fremd gegenüber gestellt werden.

Als die auf zunehmender Arbeitsmarktkonkurrenz der Einwanderer beruhenden Ressentiments zunahmen, trat eben dieses zweite amerikanische Ethos immer mehr in den Vordergrund und diente zur Rationalisierung einer Gesetzgebung, die eben diese Anderen von vielen Rechten ausschloß. Das Raster der Restriktionen erfaßte im 19.Jahrhundert zuerst die Asiaten und wurde in den zwanziger Jahren auf einen großen Teil Europas ausgedehnt. Die Reformen der fünfziger Jahre brachten zwar eine Lockerung der Vorurteilsstrukturen früherer Gesetze, eliminierten sie jedoch nicht. Und selbst als diese Kluft durch die Gesetzgebung der sechziger Jahre de jure aufgehoben wurde, überlebte sie de facto in den wütenden reaktionären Bewegungen, die während der ganzen siebziger Jahre immer wieder sporadisch ausbrachen.

Der Konflikt zwischen dem Bedarf der Wirtschaft an wenig qualifizierten Arbeitskräften und der politischen Opposition gegen die Einwanderung, der sich über eine lange Periode hinzog, spiegelt sich in den großen sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts wieder. Die von der Reaktion erwirkte restriktive Gesetzgebung gegen Ost- und Südeuropäer in den zwanziger Jahren hatte zwei Konsequenzen: Zuerst einmal führte das dazu, daß die Menschen in diesen ethnischen Exklaven sich für ein Bleiben auf Dauer entschieden, Kinder aufzogen, ein zweite Generation wuchs heran, regelrechte communitees entstanden. Als diese zweite Generation in den dreißiger Jahren zum Zuge kam, brachte sie eine große Zahl politischer Organisationen hervor, die eine zentrale Komponente von Roosevelts Demokratischer Partei waren und auch eine Gewerkschaftsbewegung, die das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern grundlegend veränderte.

Eine zweite Auswirkung der Einwanderungsgesetzgebung waren die Anstrengungen der Arbeitgeber, schwarze Arbeitskräfte aus dem Süden für die Jobs anzuheuern, die die Kinder der europäischen Immigranten nicht mehr wollten. Diese Maßnahmen leiteten eine Binnenmigration ein, die sich bis in die sechziger Jahre hinzog und die in vielem den vorausgegangenen und späteren Außenmigrationen ähnelte. Ebenso wiederholte sich das Muster der politischen Organisierung und des Arbeiterprotests in den schwarzen Ghettos des Nordens, als in diesen communities in den späten sechziger Jahren die Kinder der ursprünglichen Einwanderergeneration eine dominante Rolle bekamen. Das war der Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft begann, die nächste Welle von Einwanderern für Niedriglohnarbeiten zu rekrutieren, diesmal aus Lateinamerika und aus der Karibik. Und diese neue Einwanderung könnte – wenn sie unvermindert anhielte – wiederum eine Welle politischer Reaktion und ebenso eine Welle ethnischer Organisierung einleiten.

Allerdings verändert sich dieses altbekannte Muster in jünster Zeit, und zwar in zweierlei Weise: Zum einen sind die neuen Einwanderer nicht mehr grundsätzlich unqualifiziert. In den achtziger Jahren verlagerte sich die Einwandererstruktur immer mehr hin zu qualifizierten Arbeitskräften, die unmittelbar Arbeitsplätze in den höheren Positionen der sozialen Hierarchie einnahmen. Der Kongreß hat gerade in der letzten Zeit eine Gesetzgebung verabschiedet, die diesen Trend für das kommende Jahrzehnt noch verstärken wird. Das bedeutet im Klartext, daß die neuen Einwanderer von Anfang an die Arbeitsplätze besetzen, auf die es auch die bereits nationalisierten Amerikaner abgesehen haben. Zum zweiten – und das ist wirklich paradox – scheinen die alte Wut und die alten Ressentiments abhanden gekommen zu sein: Die Einwanderung des letzten Jahrzehnts hat keine der politischen Reaktionen und Proteste hervorgerufen, die die amerikanische Politik vor allem in den Städten noch bis in die Mitte der siebziger Jahre kennzeichneten.

Das neue Einwanderungsmuster und die Art, wie diese Menschen aufgenommen werden, signalisieren einen tiefgreifenden Wandel der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft, Veränderungsprozesse, die vielleicht sogar noch bedeutsamer sind, als die Einwanderungsstrukturen an sich.

Die veränderte Zusammensetzung der Einwanderer hinsichtlich ihrer Qualifiaktion scheint eine allgemeine Verschiebung des Arbeitskräftebedarfs auszudrücken. Im Gegensatz zu der in Europa weitverbreiteten Annahme, daß die amerikanische Wirtschaft vor allem gering qualifizierte und niedrig entlohnte Arbeitsplätze hervorbringt, scheint die Arbeitsplatzstruktur in den USA sich eher in die andere Richtung zu entwickeln. Die Zahl neuer Arbeitsplätze, für die eine höhere Qualifikation vorausgesetzt wird, überschreitet offenkundig die in den Prognosen der Regierung in den achtziger Jahren niedergelegten Annahmen, wobei diese Prognosen auch die Anzahl der neuen unqualifizierten Arbeitsplätze überschätzt haben. Die Lohnverteilung hat sich ebenso dramatisch zu Gunsten der besser ausgebildeten Arbeitskräfte verschoben. Darin sehen viele Wirtschaftswissenschaftler einen Reflex auf den Arbeitskräftemangel für qualifizierte Arbeitsplätze. Einige von uns sehen in dieser neuen Nachfrage nach qualifizierter Arbeit sogar einen Trend fort von der Massenproduktion hin zu qualifizierteren und differenzierteren Produkten und der weiteren Verbreitung flexibler Technologien.

Das Resultat ist jedenfalls eine neue Nachfrage von Arbeitgeberseite nach hochqualifizierten Einwanderern – der der Kongreß dann auch in diesem Herbst mit der gesetzlichen Festlegung neuer Einwanderungsquoten Rechnung trug. Der Bedarf der Wirtschaft wird leicht zu befriedigen sein: Ein Drittel bis die Hälfte der Studierenden in den Naturwissenschaften und den Ingenieurstudiengängen an amerikanischen Universitäten sind ausländischer Nationalität. Das heißt nichts anderes, als daß die gewünschten hochqualifizierten Immigranten unter denen angeworben werden können, die schon da sind.

Schon schwieriger zu verstehen ist dagegen eine Art neuer Toleranz in Bezug auf die Einwanderung. Sie scheint – ein weiteres Paradox – eine Reaktion auf den massiven Konservativismus der Reagan-Ära zu sein. Gerade weil Reagan so konservativ war – schließlich wurde er sogar von der extremen Rechten als einer der Ihren akzeptiert – stand er für die äußere Grenze des politisch Akzeptabelen. Und die Tatsache, daß er es war, der die Vision einer nichtrassistischen amerikanischen Gesellschaft und eine Version der amerikanischen Geschichtsschreibung verkündete, die einen großen Teil des Rassismus der Vergangenheit als illegitim stigmatisierte – wobei er gleichzeitig massiv gegen diejenigen politischen Initiativen auftrat, die versuchten, den Rassismus der Vergangenheit nun wirklich auszurotten – all das definierte das Land stärker als jemals zuvor als eine multikulturelle Gesellschaft.

Die zweite wichtige Entwicklung in den achtziger Jahren vollzogen die USA, als die Politik hierzulande in zunehmendem Maße auf etwas aufmerksam wurde und sogar mit einer legitimen Rolle belegte, was wir „identity“-Gruppen nennen könnten. Die Tragweite dieser spezifischen Veränderung in der amerikanischen Politikarena kann nur voll gewürdigt werden, wenn wir uns vorher vergegenwärtigen, was den meisten Europäern, die nie unser Land besucht haben, extrem schwerfällt zu begreifen, nämlich die Rolle des klassischen Liberalismus und liberalen Individualismus für das Selbstverständnis der Amerikaner. Die Prägung durch den klassischen Liberalismus bewirkt, daß es uns außerordentlich schwerfällt, „Gesellschaft“ als etwas anderes, als mehr denn die Summe oder Aggregation ihrer einzelnen Glieder zu begreifen. Das bedeutet gleichzeitig, daß es bei uns eine tiefes Mißtrauen allen organischen sozialen Gruppen gegenüber gibt, Gruppen, denen gegenüber die verschiedenen Individuen mehr als nur ein zeitweiliges und instrumentelles Zugehörigkeitsgefühl aufbringen.

Und in der Tat liegt einer der Gründe dafür, warum der Rassismus für Amerikaner – sagen wir es ganz deutlich – solch eine große Anziehungskraft hatte, darin, daß wir uns eben feste soziale Gruppen nur als biologisch verwurzelt und motiviert vorstellen können. Unsere Unfähigkeit, soziale und politische Gruppierungen zu begreifen, die keine derartige biologische Basis haben, hängt allerdings auch zusammen mit der schwachen Ausbildung von Klassenbewußtsein und Klassenpolitik in unserem Land. Deswegen war auch immer eines der irritierendsten und beunruhigendsten Elemente des Einwanderungsprozesses das Auftauchen der ethnischer Gruppen, die als „Verschandelung“ der sozialen und politischen Landschaft galten.

Aber in den letzten zehn Jahren hat sich dieses Bild irgendwie verändert: Die Gesellschaft scheint gegenüber politischen Prozessen, die auf ethnische Gruppen zurückzuführen sind, wesentlich toleranter geworden zu sein. Was das Ansehen von Klassenpolitik und die Vorstellung von ihrer Berechtigung anbetrifft, scheinen wir keinen Schritt weiter gekommen zu sein, eher ist das Gegenteil der Fall. Aber wir haben es gelernt, eine Politik zu akzeptieren, bei der Gruppen eine zentrale Rolle spielen, die in einem anderen Sinne organisch sind, nämlich insofern, als sie sich auf Charakteristika beziehen, die für die Menschen die Basis ihrer Identität ausmachen.

Viele dieser Gruppen sind in einem Prozeß entstanden, in dem sie erst die Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft ernst nahmen und dann die damit verbundenen Bedeutungen und Zuweisungen von ihrer negativen Fixierung zu einer positiven Bewertung hin veränderten. Die Schwarzen waren die ersten, denen dies gelang. „Black is beautiful“ war ihr Motto, der Afrolook war ihre selbstbewußte Provokation. Ihrem Muster folgend gelang es Homosexuellen, Frauen, Behinderten, Gehörlosen und Alten eine ähnliche Transformation zu durchlaufen, was ihr Bild und ihre Bedeutung in der Gesellschaft anbetrifft. In dieser neu entstandenen sozialen Landschaft sind dann auch die aus dem Einwanderungsprozeß hervorgegangenen ethnischen Gruppen dem in unserem Land verbreiteten Ordnungssinn weit weniger ein Dorn im Auge, als sie es in den Zeiten der früheren Vorstellungen einer individualistischen Sozialordnung waren.

Dieser Wandel ist nicht ohne neue Probleme. Die neuen sozialen Gruppen, die in der amerikanischen Politik zunehmend eine bedeutendere Rolle spielen, geraten im Verteilungskampf oft in Konflikte untereinander. Die früheren Immigranten mögen sich noch mit den Jobs zufrieden gegeben haben, die den Bodensatz des Arbeitsmarktes ausmachten und die nationalisierte Amerikaner gar nicht akzeptiert hätten. Aber die neuen, qualifizierten Immigranten plazieren sich auf den höheren Rängen der sozialen Hierarchie, auf die es Schwarze und Nachkommen früherer Wellen unqualifizierter Einwanderer ganz eindeutig auch abgesehen haben. Und verschärfend kommt hinzu: Ohne die neuen Einwanderer würden sie genau das sehr wahrscheinlich auch schaffen.

Viele der nicht aus dem Einwanderungsprozeß hervorgegangenen neuen sozialen Gruppen, die mit dazu beigetragen haben, diese Atmosphäre der Toleranz gegenüber den Immigranten zu schaffen, sind zur Absicherung ihres sozialen Status – manchmal sogar in existenziellen Dimensionen – abhängig von Regierungsgeldern, Mitteln der öffentlichen Hand, die allerdings als immer dünneres Rinnsal fließen. Die neuen Einwanderungsgruppen jedoch haben Positionen im sozio-ökonomischen Spektrum eingenommen, die es ihnen oder auch ihren Wortführern – anders als das für die Arbeiter in den Fabriken gelten mochte – nicht als einen natürlichen Reflex erscheinen lassen, auf derartige ökonomische Zwänge und Problemlagen zu reagieren. Am Ende könnten die neuen politischen Ansätze sich als nicht weniger konfliktträchtig als die alten erweisen. Der Punkt ist nur, daß sie offensichtlich anders sind und vor dem Hintergrund unserer bisherigen Erfahrungen in der Einwanderungspolitik vor allem eines: unvorhersagbar.

Michael J. Piore ist Professor für Ökonomie am Massachusetts Institute of Technology.

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