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Archiv-Artikel

DIE NEUE BUNDESREGIERUNG SETZT AUF EINE PRAGMATISCHE OSTPOLITIK Keine Frage der Moral

Das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ hat in Polen für so heftige Debatten gesorgt, als ob eine Revision der Grenze zur Diskussion stünde. Aber selbst wenn dieses Zentrum ein verzerrtes antipolnisches Geschichtsbild präsentieren sollte, wäre es für Polen keine Gefahr; es interessiert außer seinen Organisatoren und den Journalisten in Deutschland ohnehin niemanden. In Polen aber ist es wichtig: Lech Kaczyński und seine PiS haben bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober antideutsche Stimmungen genutzt.

Auf sie wird das neue Regierungslager umso weniger verzichten wollen, als es sein sozialpolitisches Programm ohne beträchtliche Abstriche nicht realisieren kann. Die deutsche Regierung wird sich in Polen an antideutsche Töne gewöhnen müssen; einer pragmatischen oder gar vertrauensvollen Kooperation müssen sie nicht schaden. Das Gleiche gilt für die Pipeline zwischen Russland und Deutschland. Auf 250 Jahre preußisch-russischer und deutsch-russischer Bündnisse zur Vernichtung Polens beziehen sich die polnischen Vorbehalte. Aber eigentlich geht es um Fragen der Energieversorgung. Wie schon in der deutschen Innenpolitik zeigt Frau Merkel hier, dass Sie mit politischen Symbolen und Erregungen kontrolliert umgeht.

Auch im russischen Fall stehen wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Das Land lebt gegenwärtig fast ausschließlich vom Export seiner Energiereserven und ist daher teilweise kompromissbereit; deutsche Unternehmer aber können in Russland noch erhebliche Gewinne machen. Aus diesem Grund hat die letzte deutsche Regierung zum Tschetschenienkrieg geschwiegen. Entsprechend könnte die neue eine Kritik am Verbot ausländischer Stiftungen unhörbar leise äußern.

Zwar waren die westlichen Stiftungen für die russische Zivilgesellschaft schon unter Jelzins Regierung lebenswichtig – und sind es heute mehr denn je. Aber die russische Innenpolitik interessiert die deutsche Regierung ebenso wenig wie die polnische. Auch die neue deutsche Regierung wird aus wirtschaftlichem Pragmatismus die symbolischen und moralischen Auseinandersetzungen zu dämpfen suchen. ERHARD STÖLTING