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Archiv-Artikel

DIE MEDIZINER VERHINDERN MIT IHREM PROTEST NOTWENDIGE REFORMEN Die Arztgehälter sind nicht das Problem

Um es gleich vorwegzunehmen: Es gibt zahlreiche Ärzte, die tagtäglich engagiert ihren Mitmenschen beistehen. Doch oft sind sie gezwungenermaßen mehr mit Formularen und Checklisten als mit ihren Patienten befasst. Bürokratie statt Samaritertum. Es ist auch diese Sinnkrise, die den aktuellen Ärzteprotesten ihre Hartnäckigkeit verleiht. Weil der Protest aber nur auf mehr Gehalt zielt, steht er einer Neubewertung ärztlichen Tuns und einer überfälligen Umorientierung des Gesundheitswesens entgegen.

Unter den Sparzwängen leiden nämlich längst auch die Patienten. Zwar werden sie insgesamt auf hohem medizinischem Niveau versorgt. Dennoch gehört Mangelversorgung zur Klinikrealität: Jährlich leiden beispielsweise rund 120.000 Krebspatienten unnötig an Tumorschmerzen. Weil Behandlungen nur noch pauschal entgolten werden, haben Kliniken an diesen Patienten kein Interesse. Zu Hause bleiben von der Schmerzbehandlung jedoch Fachärzte ausgeschlossen. Hausärzte erhalten nur unzureichende Vergütungen, Pflege- und Krankenversicherung streiten sich um die Pflegekosten. Ergebnis ist ein „Drehtüreffekt“: Patienten werden zu früh entlassen, zu Hause aber nicht angemessen betreut. Die Rückverlegung ins Krankenhaus wird erforderlich. Das ist medizinisch absurd, menschlich unerträglich – betriebswirtschaftlich aber sinnvoll: Mit jeder Einweisung kann die Klinik zusätzliche Behandlungspauschalen geltend machen.

Wer in dieser Situation nur auf höhere Ärztegehälter setzt, ignoriert, dass Kliniken und ambulante Versorgung in ihrem heutigen Zuschnitt keine Zukunft haben. Vielmehr muss die aktuelle Finanzkrise für eine Verzahnung von stationärer und ambulanter Versorgung und von medizinischen und pflegerischen Diensten genutzt werden: Speziell geschulte Teams betreuen dann etwa schwer kranke Patienten ganzheitlich sowohl in der Klinik wie zu Hause. Dazu wäre auch eine bessere Qualifikation (und eine bessere Bezahlung) von Pflegekräften erforderlich, die künftig selbstständig eine größeren Anteil gesundheitlicher Leistungen erbringen. Ärzte hätten dann weniger Stress und mehr Freizeit. HARRY KUNZ