piwik no script img

Archiv-Artikel

DIE GESELLSCHAFTSKRITIK Wenn das Adorno wüsste

RICHTIGES IM FALSCHEN Sie sind die kritischsten Geister: Lehrer und Blogger. Und der Bertelsmann-Konzern kaufte sie für 5.000 Euro

Es ist die aufmüpfigste und schnellste aller Kongressformen: die sogenannte Un-Konferenz, gerne auch BarCamp betitelt. Sie versammelt kritische Geister – und lässt sie sich selbst organisieren. Das „EducationCamp Bielefeld 2011“ (#ecbi11) nun schaffte die Quadratur des Kreises: Die quasi unorganisierbaren Graswurzelblogger der Lehrerbasis ließen sich vom Milliarden-Euro-Player Bertelsmann bezahlen – und waren besoffen vor Glück. Blogger sind viel naiver, als mancher Piratenfürchter glauben mag.

Als die Lehrer von Bielefeld nach Hause fuhren, zwitscherten sie sich zu kollektiven digitalen Höhepunkten. Unbedarfte Mitleser wurden mit Gefühlsduselei abgefüllt. Auf die Idee, dass der 5.000-Euro-Zuschuss für das BarCamp der günstigste anzunehmende Imagegewinn für Bertelsmann ist, kam bei Twitter niemand. „Wo ist das Problem, dass die Bertelsmann Stiftung ein Educamp ermöglicht hat?“, hauchte es. „Die Sessions auf dem #ecbi11 waren wie immer vollkommen selbstbestimmt und innovativ, ob nun Bertelsmann oder nicht“, pfiff man sich im 140-Zeichen-Wald mutig zu.

In Wahrheit war es der Größte Anzunehmende Unfall für eine sich gegenöffentlich nennende Netz-Community. Das verbreitete „Alle Bertelsmänner sind Schweine“-Image der Bertelsmann-Stiftung mit angehängtem Gigakonzern verwandelte sich im Netz binnen Stunden zu einem „We love Bertelsmann“.

Man rieb sich die Augen. Die gefräßige Bertelmaus, mit der kleine Stiftungen nur ungern kooperieren, hatte die Bloggerszene verschluckt – glatt, ohne Rülpser oder Sodbrennen. Lehrer, die sich aus Prinzip mit Kultusministern nicht an einen Tisch setzen, sie hopsten jauchzend ins Gütersloher Bettchen – und verschafften der Stiftung eine ungeahnte Aura. Billiger kann Bertelsmann Positiv-PR nicht haben.

Der 15-Milliarden-Umsatz-Konzern ist Kernstück der europäischen Bewusstseinsindustrie. („Internationalstes Medienunternehmen“, „größter Buchverlag der Welt“). Über RTL ist Bertelsmann Herr dessen, was Akademiker als Unterschichtenfernsehen bezeichnen – und nun steht der Medienkonzern auch in der hyperkritischen Bloggerszene makellos da. Außer den Lehrern wehrt sich sonst keine andere Berufsgruppe so fundamentalistisch gegen „die Wirtschaft“ – aus Furcht, Coca-Cola könnte Schüler verführen. Aber wenn ein riesiger Medienkonzern an sie und ihre Ideen andockt, dann findet ausgerechnet die modernste und innovativste Pädagogengruppe nichts dabei, die netzaffinen Lehrer 2.0. Wenn das Adorno wüsste. CHRISTIAN FÜLLER