DIE EU BRAUCHT EINE NEUE STRATEGIE GEGENÜBER ANKARA : Europäisch-türkische Beziehungskrise
Seit gestern wissen wir: Die mehr als vierzig Jahre dauernde Beziehungskrise zwischen Brüssel und Ankara schleppt sich in die nächste Runde. Wie eine alternde Geliebte hofft die Türkei weiter darauf, eines Tages als EU-Mitgliedsstaat legitimiert zu werden. Europa dagegen hält den dringend gebrauchten, aber ungeliebten strategischen Bündnispartner in bewährter Weise berechnend hin – mit einer wohldosierten Mischung aus Ermunterungen und kalten Dämpfern.
Die Frühlingsgefühle sind verflogen, auch bei den Türken. Nur noch jeder Dritte möchte die Mitgliedschaft. In der diplomatischen Sprache der EU-Kommission und der EU-Regierungen hat sich eine Kälte breitgemacht, die sonst Staaten wie Iran oder Nordkorea vorbehalten bleibt: Einfrieren, auf Eis legen will man die Verhandlungen, wenn Ankara nicht endlich seine Versprechen einlöst und Zypern als vollwertiges EU-Mitglied anerkennt.
Der Zypernstreit ist vielen Türkeigegnern eine willkommene Möglichkeit, die verschmähte Geliebte auf Abstand zu halten. Fortschritte im Beitrittsprozess werden dagegen kleingeredet. Erweiterungskommissar Olli Rehn warnte gestern davor, mit Drohungen und Zurückweisungen eine Trotzreaktion auszulösen. Der in der Öffentlichkeit entstandene Eindruck sei falsch. In Wahrheit habe die Türkei in dem Jahr seit Beginn der Beitrittsverhandlungen große Fortschritte gemacht.
Schon jetzt sind viele Türken davon überzeugt, dass die EU-Staaten sie niemals in ihren erlesenen Zirkel aufnehmen werden. Mit jeder neuen Drohung, die wenig später in ein halbherziges Ultimatum umgewandelt wird, verliert Europa weiter an Glaubwürdigkeit. Nur eine neue Verhandlungsstrategie kann die Vertrauensbasis wieder herstellen. Die EU muss eindeutige Bedingungen formulieren, klare Fristen setzen und angedrohte Konsequenzen auch wahrmachen.
Für solche Konsequenz braucht es noch nicht einmal Einstimmigkeit. Denn in ihrem Verhandlungsrahmen haben die Mitgliedsstaaten festgelegt, dass eine qualifizierte Mehrheit die Verhandlungen aussetzen kann, wenn ein schwerer Verstoß gegen die grundlegenden Werte der Union vorliegt. DANIELA WEINGÄRTNER