DIE DEBATTE ÜBER EIN VORSCHUL-PFLICHTJAHR VERRÄT DOPPELTE MASSSTÄBE : Das Mutterbild der Nation
Seit Familienministerin Ursula von der Leyen gefordert hat, die Krippenplätze für Kleinkinder massiv auszubauen und Fünfjährige sogar zum Besuch der Vorschule zu verpflichten, diskutiert die Nation ihr Mutterbild. Denn diese Forderungen treiben manchen Müttern, Bischöfen und CSU-Politikern die Zornesröte ins Gesicht.
Deren Empörung verwundert nicht. Wichtiger aber ist, dass nun endlich auch Männer in die Debatte einsteigen. Denn wenn es um vermeintlich weibliche Erziehungsfragen geht, sind schließlich auch die Herren betroffen. Und so viel steht fest: Allein das morgendliche In-die-Kita-Bringen und ein wenig Zeit am Wochenende zum Zoobesuch – das reicht eben nicht (mehr) aus.
Dass die Debatte dazu beiträgt, auch bei Konservativen überkommene Rollenbilder zu überwinden, ist positiv. Leider weist sie eine merkwürdige Schräglage auf: Denn wie selbstverständlich wird von konservativer Seite für Einwanderer- und Unterschichtskinder eine Vorschulpflicht als wünschenswert begrüßt. Wenn es um privilegierte und gebildete Schichten geht, wird dieselbe Vorschulpflicht hingegen als Teufelszeug abgetan. Da stellt sie dann plötzlich einen durch nichts zu rechtfertigenden Eingriff ins heilige Erziehungsrecht dar.
In anderen Worten: Für Assis sei Kita Pflicht, für Akademiker Kür. Niemand hat das schöner auf den Punkt gebracht als Jürgen Rüttgers, der ach so moderne Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens. Zum Ausbau der Krippenplätze sagte er, „dass dies für viele Kinder aus nicht intakten Familien die bessere Lösung sein kann“. Solche Sätze zeigen, dass es nicht leicht ist, 150 Jahre verfestigter Familien- und Bildungsideologie zu überwinden. Der Mann lebt offenbar noch in einer Zeit, als Kinderkrippen „Bewahranstalten“ hießen und nur für die Kinder der Armen vorgesehen waren.
In dieser Vorstellungswelt muss man Migranten zu ihrem Glück zwingen. Für sie seien frühkindliche Spracherziehung und spielerisches Lernen gut genug, für andere nicht. Doch genau darum ist auch für Akademikerkinder ein erstklassiger Kindergarten ohne Alternative: um die Kindererziehung praktisch und geistig aus den Krallen von Typen wie Rüttgers zu befreien. CHRISTIAN FÜLLER