DIE DEBATTE UM DIE RAF-GEFANGENEN WEIST EINE SOZIALE SCHIEFLAGE AUF : Straftäter aus unseren Kreisen
Intensiv wie lange nicht mehr wird in der deutschen Öffentlichkeit über das Schicksal von Langzeitgefangenen debattiert. Allerdings beschränkt sich diese Debatte in merkwürdiger Einseitigkeit auf einen kleinen Teil dieser Gruppe: auf ehemalige RAF-Mitglieder, bei denen jetzt die Frage einer Haftentlassung ansteht. Dass die Ex-Terroristen keineswegs die einzigen Menschen sind, die mehr als zwanzig Jahre hinter Gittern sitzen, wird dabei großzügig übersehen – so großzügig, dass weder Justizbehörden noch Wissenschaftler je ermittelt haben, um wie viele Personen es sich handelt.
Das gibt der Debatte eine Schieflage, die bezeichnend ist für die neue Art von Klassengesellschaft, die sich in diesem Land herausgebildet hat. Die RAF-Häftlinge sind für ein bestimmtes Segment der akademisch gebildeten Öffentlichkeit vor allem aus einem Grund interessant: Es sind Leute, deren Mordtaten sie zwar nicht billigen mag, in deren Motivation und Lebensentwurf sie sich aber zumindest hineinversetzen kann – was bei manchen dann seinen Ausdruck in dem Gedankenspiel findet, wie leicht man selbst in eine Karriere als Terrorist hätte abrutschen können.
Ganz anders sieht es mit jenen Straftätern aus, denen man gern das Etikett „gewöhnlich“ anheftet. Sie können auf Verständnis für das soziale Umfeld ihrer Taten längst nicht mehr hoffen, im Gegenteil: Trotz sinkender Kriminalitätsraten werden die Gefängnisse immer voller.
Lautstarke Stimmen gegen diesen Trend hat man schon lange nicht mehr vernommen, von der Abschaffung aller Zwangsanstalten ist längst keine Rede mehr. Auch nicht davon, dass die Bemessung von Haftjahren im Verhältnis zur Schwere der Straftat einen höchst willkürlichen Akt darstellt – ein Notbehelf, solange noch niemand eine humanere Alternative ersonnen hat.
Stattdessen werden Haftstrafen als Mittel zur sozialen Disziplinierung einer zunehmend als delinquent wahrgenommenen Unterschicht zumindest stillschweigend gebilligt. Das allerdings passt zu einer Bildungsdebatte, die stets vor den Toren des Gymnasiums endet. Und einem Arbeitsmarktdiskurs, der sich auf die Luxusprobleme der Generation Praktikum verengt. RALPH BOLLMANN