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Archiv-Artikel

DIE BRASILIANISCHE ACHSE VON JULIAN WEBER

Nackte Glühbirnen-Bossa

Bald geht er wieder los, der Karneval in Rio. Vinicius Cantuária wird nicht dabei sein. Er ist vor Jahren nach New York gezogen, „um brasilianischer zu werden“. Das Cover seines neuen Albums „Silva“ zeigt die Erlöserstatue, das Wahrzeichen Rios auf dem Zuckerhut. „Erlöser“ nennt sich auch eine Foltermethode der brasilianischen Polizei. Gefolterte halten stundenlang Telefonbücher in den ausgestreckten Armen. „Selbstverständlich ist der Sozialismus die Zukunft, aber einen Markt wie die USA zu verlieren, kann ich mir nicht leisten“, sagte Cantuárias Vorbild Heitor Villa-Lobos einst.

In Downtown-Manhattan hat Cantuária eine neue Heimat gefunden, mischt in Bill Frisells Projekt The Intercontinentals mit, tauscht sich mit dem brasilianischen Amerikaner Arto Lindsay aus. Zu einem Begleiter ist auch Steely-Dan-Trompeter Michael Leonhart geworden, der auf „Silva“ die Melodien mit seiner Wattebausch-Trompete kühl, aber nicht zu cool ausstopft. „Silva“ ist eine Bossa-Angelegenheit, Leisetreter-Suspense, der in den Untertönen den Blues bereithält. Die Version von Jobims Klassiker „A Felicidade“ wirkt dem Verfall preisgegeben. Aus den Eigenkompositionen entweichen in subtilen Momenten auch Ambient-Wellen. Für Cantuária ist das „Post-Electronica-Accoustic“. Die Rhythmen sind schon da, sie mahlen aber im Hintergrund, werden gedehnt und verzögert. Cantuária begreift die Gitarre als Percussion. Streicherarrangements und seine Nackte-Glühbirnen-Stimme mischt er ganz nach vorn.

Vinicius Cantuária: „Silva“ (Hannibal)

Die brasilianische Poprevolution

Walter Smetak und Hans Joachim Köllreuter sei gedankt. Die Komponisten landeten auf der Flucht vor den Nazis 1940 an der Musikhochschule von Salvador De Bahia, im Nordosten Brasiliens. Im Durcheinander von Neutönerideen und afrobrasilianischer Musikkultur gediehen bei ihren Beatles-hörenden Studenten in den Sechzigern Popfantasien. Selbst der Militärputsch von 1964 konnte sie nicht stoppen. Erst krempelten sie mit spezifisch nordöstlichen Percussionstyles den Bossa-Nova-Sound um, dann übernahmen sie die Charts.

Heute sind die Songs von Gilberto Gil, Caetano Veloso, Gal Costa, Tom Zé und Os Mutantes aus den Sechzigern rar. Erste Hilfe bietet ein Sampler namens „Tropicália“, mit vorzüglicher Songauswahl und dickem Begleitbuch. Darin ist auch von Oswald De Andrade die Rede, einem Dichter, der in den Zwanzigern den kulturellen Kannibalismus propagierte: Die Tropicálistas machten sich seine Forderung nach der Absorption fremder Einflüsse zu eigen und probierten einen der ersten Intellektualisierungsversuche von Pop. Andererseits war ihre Musik auch massenwirksam. Os Mutantes machten sogar Musik für brasilianische Shell-Werbejingles. Für die Linke waren sie zu amerikahörig, die Rechten hielten die Tropicálisten für anarchistische Spinner. Und sie mussten ihren Preis bezahlen. „E Proibido Proibir“ (Verbieten Verboten) hieß ein Song von Caetano Veloso, der als Untertitel für „Tropicália“ wirbt. Nach kurzer Haft gingen Veloso und Gilberto Gil für zwei Jahre ins Exil nach London.

„Tropicália. A Brazilian Revolution in Sound“ (Soul Jazz)

Sambagetriebene Percussions-Oper

Beinahe wäre er als Tankwart geendet. Mitte der Achtzigerjahre war Tom Zé in Brasilien vergessen. Bis der New Yorker David Byrne sein Album „Estudando O Samba“ aus einer Grabbelkiste zog und Zé wieder ausfindig machte. Nun erfährt der 69-jährige Künstler auch in seiner brasilianischen Heimat ein Revival. Zé sagt, er sei „Schüler des klassisch-mathematischen Deutschlands“. Wie sein Lehrer Walter Smetak benutzt Zé Alltagsgegenstände als Klangerzeuger (z. B. eine Bohnerwachsmaschine).

Sein aktuelles Album ist die aus drei Akten und einem Libretto bestehende Oper „Estudando O Pagode“. Die „Pagode“ ist ein schneller Sambarhythmus, ursprünglich afrobrasilianischen Ursprungs, ist sie heute in der Mittelschicht von Zés Wahlheimat São Paulo beliebt. „Estudando O Pagode“ ist allein durch seine rhythmische Vielfalt erschütternd. Wobei Zés Wall-of-Percussion (inklusive Eselsschreie) als Melodie gedacht ist. „Estudando O Pagode“ ist eine Percussion-Oper über das Geschlechterverhältnis. Es geht um die Dreiecksbeziehung zwischen dem Studenten Maneco, Professor Burgone und Manecos Freundin Teresa, die auf den Strich geht, um sich einen Psychologiekurs leisten zu können. So wird noch einmal die Aufbruchzeit der Sechzigerjahre besichtigt und behandelt, was von der sexuellen Befreiung jener Tage übrig geblieben ist.

Die Musik ist folkiger und dichter als Zés Popsound aus den Sixties. Sieht nicht danach aus, als würde er nächstens emeritieren.

Tom Zé: „Estudando O Pagode. Na Opereta Segregamulher“ (Luaka Bop)