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DIE ALTE ERDEWhat is a living thing?

■ Heute wissen wir, daß die Parallele zwischen lebender und toter Materie größer ist, als man früher dachte. Langsam rückt die Wissenschaft dem Geheimnis näher, wie das Leben entstand. Großen Anteil daran hat der Belgier Ilya Prigogine, Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1977. Er erklärt, warum nur offene Systeme, die chaotisch und instabil sind, Evolution und Entstehung von Leben zulassen. Damit setzt er sich in Gegensatz zum Entropiegedanken der Thermodynamik. Dominique Leglu hat das Interview eführtmit ILYA PRIGOGINE

WORLD MEDIA: Was ist ein Lebewesen?

Ilya Prigogine: Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder geht man davon aus, daß Lebendiges und Unbelebtes fundamentalen Gesetzen unterliegen, die gemeinsame Aspekte haben. Oder man geht davon aus, daß es zwei Bereiche gibt. Das ist der cartesianische Dualismus. Descartes unterschied tatsächlich zwischen leblosen Gegenständen und der menschlichen Intelligenz, die natürlich zum Kreislauf des Lebendigen gehört. Ich glaube, daß man sich heute sehr darum bemüht, über diesen Dualismus hinauszukommen und die Gesetze des Lebens in eine Verallgemeinerung der Naturgesetze einzubeziehen.

Betrifft das die Philosophen oder die Wissenschaftler?

Es sind vor allem die Wissenschaftler selber, die Physiker, Chemiker und Biologen, die sich darum bemühen. Ich möchte daran erinnern, daß das Beispiel der Evolution seit dem letzten Jahrhundert eine Inspirationsquelle für die Physiker. Der Physiker Schrodinger [Urheber der berühmtesten Gleichung der Quantenmechanik, die für das unendlich Kleine gilt, A.d.Red.] hat versucht, physikalische Begriffe auf die Biologie anzuwenden. Aber das Problem ist ungelöst geblieben. Es gibt auf der einen Seite die Biologie und die Evolution mit ihrem zeitlichen Aspekt, und auf der anderen die Physik mit ihren zeitlosen und in der Zeit reversiblen, also deterministischen Gesetzen. Das bezeichne ich gern als evolutionistische Beschreibung des Universums, also eine zeitliche Beschreibung, in der es, unabhängig von Lebewesen, auch eine Richtung der Zeit und der Ereignisse gibt. Eine solche Beschreibung zeichnet sich in den Forschungen der Physik und Chemie der letzten Jahrzehnte tatsächlich ab.

Gehört das Szenario des Big Bang, das heute als Hypothese formuliert wird, zu dieser Beschreibung?

Der Big Bang ist natürlich sehr wichtig, wenn man sich eine Entwicklung des Universums vorstellen will. Aber er ist selber ein sehr komplexer Vorgang, und wenn man ihn heranzieht, um die Biologie zu erklären, dann ist das ein bißchen so, als würde man sich auf etwas Unbekanntes berufen, um etwas anderes Unbekanntes zu erklären. Ich spreche lieber über Dinge, die näherliegen, die wir besser verstehen können. Ich würde sagen, daß in den letzten Jahrzehnten vor allem zwei Wissenschaften dazu beigetragen haben, die Ansichten über die Welt radikal zu verändern: einerseits die Thermodynamik des Ungleichgewichts mit Strukturen, die man als dissipativ bezeichnet, und andererseits das Chaos mit instabilen Systemen.

Inwiefern betrifft die Thermodynamik des Ungleichgewichts lebende Systeme?

Man hat sich lange für isolierte Systeme interessiert, die man, in ein Gefäß eingeschlossen, sich entwickeln ließ. Diese Systeme entwickeln sich offenbar auf einem Gleichgewichtszustand hin. Jetzt interessiert man sich vor allem für offene Systeme, die mit der Außenwelt Materie und Energie austauschen. Dieser Austausch hindert das System daran, ins Gleichgewicht zu kommen. Und dabei gab es eine große Überraschung: Das Verhalten der Materie im Ungleichgewicht unterscheidet sich von dem der Systeme, die im Gleichgewicht sind.

Ein System unterscheidet sich durch seine Kohäsion von der Außenwelt. Und das ist charakteristisch für das Leben: Lebende Gegenstände, wenn man so sagen darf, haben eine andere Struktur als ihre Umgebung. Um ein ganz banales Beispiel zu nehmen: Eine Stadt hat eine ganz andere Struktur als das Land, sie hat ihre eigene Individualität, aber sie kann trotzdem nicht ohne das Land existieren. Auf dieselbe Weise entstehen statt des Gleichgewichts besondere Individualitäten, die von einem Milieu abhängig sind, sich aber von ihm unterscheiden.

Man kann sich vorstellen, daß das Leben ein Phänomen der Selbstorganisation der Materie ist. Wir wissen heute, daß die Selbstorganisation in der Chemie nicht-lineare Phänomene wie Feedback und Erweiterung einschließt, bei denen ein Molekül ein anderes schafft, wobei das letztere für die Entstehung des ersten selber notwendig ist.

Ist dieses Feedback viel mehr als das, was man gewöhnlich als Katalyse bezeichnet?

Es ist eine Art von erweiternder Autokatalyse, die wesentlich ist, um statt des Gleichgewichts Gabelungspunkte zu erhalten, von denen ausgehend unterschiedliche raum-zeitliche Strukturen entstehen. Diese Art von Strukturen spielen natürlich in der Chemie eine große Rolle. Viele Physiker und Chemiker sind dabei, sie zu untersuchen. Es werden ständig neue entdeckt. Man hat vor kurzem in Bordeaux und in Austin/Texas in einem Gel, das mit zwei Behältern mit verschiedenem Inhalt in Berührung stand, regelmäßige Strukturen experimentell nachgewiesen, ähnlich wie Kristalle.

Sie betonen die Bedeutung von Strukturen ohne Gleichgewicht. Ist das Chaos ebenso wichtig?

Man hat festgestellt, daß das Gehirn Chaos und Unregelmäßigkeit braucht, um funktionieren zu können. Das ist erstaunlich. Wenn das Gehirn krank wird, dann weil es zu geordnet ist. Ich habe vorhin Gabelungspunkte erwähnt, von denen ausgehend Strukturen entstehen. An diesen Punkten gibt es keine deterministischen Gesetze mehr, man kann nur von der Wahrscheinlichkeit sprechen, daß dort die eine oder andere Struktur entsteht. Sehr wichtig: Man erkennt einen gewissen Parallelismus zwischen dem Verhalten ohne Gleichgewicht und dem biologischen Verhalten. Infolge der Irreversibilität wird das Unwahrscheinliche Wirklichkeit...

Die Biomoleküle [sehr komplexe Moleküle wie zum Beispiel das DNA oder das RNA, A.d.R.] enthalten das Zeichen der Zeit, der Irreversibilität, und übertragen es von einer Generation auf die andere. Früher hieß es, daß es keine chemophysischen Erklärungen für das Leben geben könne, weil die Wahrscheinlichkeit, die Entstehung von richtigen Molekülen zu sehen, gleich Null wäre. Man hat gesehen, daß in einem Bernard- Wirbel die Wahrscheinlichkeit bestand, Milliarden von Molekülen zu haben, die einander folgen. Kurz gesagt, durch das Irreversible wird das Unwahrscheinliche möglich.

Welche Experimente kann man durchführen, um das Auftreten von komplexen Molekülen zu überprüfen?

Man kann Computersimulationen verwenden. Man simuliert zum Beispiel ein Phänomen der Polymerisierung (ein Polymer ist eine sehr lange Kette, in der sich ein und dasselbe Molekül identisch wiederholt. A. d. R.) in einem chaotischen Milieu ohne Gleichgewicht. Man beobachtet dann die Entstehung von Polymeren, die weder zu periodisch sind (sie transportieren keine biologischen Informationen) noch zu unregelmäßig (auch sie transportieren keine Informationen), sondern in einem Zwischenstadium. Ich will nicht behaupten, daß wir heute in der Lage sind, synthetische Lebewesen herzustellen, aber was sich jetzt abzeichnet, ist ein Parallelismus zwischen Leben und Nicht-Leben, der größer ist, als man vor ein paar Jahrzehnten annahm.

Wie weit geht dieser Parallelismus? Könnte man sich vorstellen, daß das Universum von seinem Ursprung an eine Art großes lebendes System ist?

Ja, wenn man will. Man darf das nicht zu wörtlich nehmen, aber wir müssen verstehen, daß es eine gewisse Einheit gibt. Diese Einheit ist der Pfeil der Zeit, die Irreversibilität. Das Universum entwickelt sich als Ganzes. Das Leben stellt auf besonders klare Art und Weise einen der fundamentalen Aspekte des ganzen Universums dar. Für Jacques Monod, der davon ausging, daß das Leben der Materie äußerlich ist, ergab sich daraus eine gewisse Entfremdung, ganz besonders die Entfremdung des Menschen. Die Vorstellung, die sich heute abzeichnet, ist genau umgekehrt. Man muß nur noch die Phänomene der Irreversibilität und des Chaos mit den fundamentalen Gesetzen von Newton, Schrodinger und Einstein kombinieren. Damit ist man dann beim Problem des Big Bang und der Evolution des Universums. Schon die Begriffe der Chaostheorie, die auf den Arbeiten von Henri Poincaré beruhen (der 1889 die Idee eines dynamischen instabilen Systems formuliert hatte), führen zum Begriff des aleatorischen Verhaltens (Zufallsverhaltens) und bringen die Grundlagen der Newtonschen Dynamik zum Einsturz. Es ist eine neue Beschreibung der Welt, in der es auf einer grundsätzlichen Ebene Raum für die Aleatorik und das Irreversible gibt. Diese Begriffe müssen auch für die Gesetze der Quantenmechanik und der Relativität verallgemeinert werden. Unsere ganz aktuellen Fragen zeigen ein anderes Bild des Big Bang.

Wir müssen uns fragen, wo die Materie herkommt und ein Prä-Universum definieren, in dem es keine Materie gab. Der Ursprung der Materie ist vielleicht mit dem Ursprung des Lebens vergleichbar. Sie ist, wie das Leben, ein Ereignis. Etwas Irreversibles, das sich als Instabilität gebildet hat. Und zwar auf ganz ähnliche Weise wie das, was sich in der Biologie abgespielt hat. Dann wäre das Universum im Zeichen des Ungleichgewichts entstanden, genau wie das Leben.

Ilya Prigogine

wurde 1917 in Moskau geboren. Fünfzig Jahre später gründete er in den USA sein eigenes Zentrum zur Erforschung der Thermodynamik. 1977 erhielt er den Chemienobelpreis.

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