DER NEUE MENSCH: Aids und die Krankheiten des 21. Jahrhunderts
Der medizinisch gut versorgte Norden nuß sich entscheiden: Überläßt er die „Dritte Welt“ ihrem Schicksal oder ist er auch zu Opfern bereit? Durch Fortschritte in der Immunologie und bei der Genreparatur sind Erkrankungen wie Krebs und Aids medizinisch in den Griff zu bekommen. Doch wieviele Menschen können sich im 21. Jahrhundert Gesundheit überhaupt leisten? ■ VON LUC MONTAGNIER
Im 20. Jahrhundert errang die Menschheit einen gewaltigen Erfolg in ihrem Kampf gegen die Infektionskrankheiten. Man kann sagen, daß die Zahl der Weltbevölkerung vor allem wegen dieses Erfolges von 1,6 Milliarden im Jahr 1900 auf fast 6 Milliarden im Jahr 1990 angestiegen ist. Neben dem Fortschritt in der Hygiene, vor allem durch Impfstoffe und Antibiotika, ist zumindest in der nördlichen Hemisphäre die Zahl der Todesfälle durch Tuberkulose, Diphterie, Typhus, Tetanus, Tollwut, spinale Kinderlähmung, Masern und Grippe zurückgegangen. Diese Krankheiten gibt es allerdings weiterhin in den ärmsten tropischen Gebieten, die auch unter Parasitosen, vor allem Malaria, leiden. Unterernährung, Armut, fehlende Hygiene und Mangel an funktionierenden Strukturen sind die Ursachen dafür.
Sie werden auch im 21. Jahrhundert weiterbestehen, in dem sich der Abstand zwischen Industrie- und Entwicklungsländern mit ihrer Bevölkerungsexplosion weiter vergrößern wird. Eine neue Geißel, die zu Beginn des vorigen Jahrzehnts aufgetaucht ist, droht in den Ländern der Dritten Welt, in Afrika, Asien und Lateinamerika zu wüten, in geringerem Maß aber auch im Norden: Aids. Diese Krankheit ist in mehr als einer Hinsicht exemplarisch: erstens als Krankheit, die mit den Umwälzungen unserer Zivilisation zusammenhängt; zweitens als Prototyp komplexer, multifaktorieller Krankheiten des 21. Jahrhunderts; drittens als Indikator des Ungleichgewichts zwischen Nord und Süd und der Einstellung der westlichen Gesellschaften zu der Bedrohung, die darin liegt.
1. Wenn es stimmt, daß der Aids-Virus in Afrika lange unentdeckt existierte, dann ist die Epidemie Ende der siebziger Jahre gleichzeitig in Afrika und in den Vereinigten Staaten aufgetaucht. Die sexuelle Promiskuität von bestimmten amerikanischen Homosexuellen und der Drogenmißbrauch durch intravenöse Injektion haben in den betroffenen Gruppen eine Kettenübertragung ausgelöst. In der Dritten Welt haben die Zerstörung von traditionellen ländlichen Strukturen und das rasche Wachstum von Riesenstädten die Entstehung von Prostitution und sexueller Promiskuität gefördert und damit die Voraussetzungen für eine Explosion der heterosexuellen Übertragung von Aids geschaffen. Wahrscheinlich sind zu diesen zivilisatorischen Phänomenen biologische Faktoren hinzugekommen. Wenn sie einen bakteriellen Ursprung haben, dann kann ihre Selektion auf dem massiven Einsatz bestimmter Antibiotika beruhen.
2. Aids ist eine komplexe Krankheit. Wenn der HIV-Virus der wesentliche Erreger ist, dann kann es als wahrscheinlich gelten, daß bakterielle Infektionen, durch die er seine klinischen Merkmale erhält, als Auslöser und Verstärker des Virus eine Rolle spielen. In Afrika und Asien entsteht ein Teufelskreis von Tuberkulose und Aids, wobei der HIV-Virus die Tuberkulose verschlimmert und die Tuberkulose die Entwicklung des Virus und seiner Folgen beschleunigt. Darüber hinaus spielen wahrscheinlich auch immanente Reaktionen des Immunsystems auf diese auslösenden Faktoren in der klinischen Phase der Krankheit eine unheilvolle Rolle.
Tatsächlich erscheint mir Aids als Prototyp von multifaktoriellen chronischen Erkrankungen, die in den Krankheitsbildern unserer Nachkommen wesentlich sein werden. Während es relativ leicht war, aber trotzdem ein halbes Jahrhundert gedauert hat, Keime zu besiegen, die jeweils eine akute Krankheit auslösten, wird es schwieriger werden, Keime zu besiegen, die wie der Aids-Virus in der Lage sind, als chronische Infektion dauerhaft zu existieren. Man kann allerdings hoffen, daß vor dem Jahr 2000 ein Impfstoff entwickelt wird, der vor der Infektion schützt, und daß therapeutische Fortschritte den Ausbruch von Aids bei HIV-Positiven verlangsamen oder sogar verhindern können. Aber zu welchem Preis? Wahrscheinlich wird er für die Gemeinschaft der entwickelten Länder zu tragen sein, in denen Aids sich in der heterosexuellen Bevölkerung nur langsam verbreitet.
3. Dadurch wird die Bevölkerung der „reichen“ Länder vor eine grundsätzliche Alternative gestellt: Entweder die isolationistische Lösung, bei der man die tropisch-äquatoriale Welt auch noch unter dieser neuen Krankheit leiden läßt. Eine Lösung, die allen universellen Werten des Abendlandes zuwiderläuft. Außerdem wäre sie nur mit mittelalterlichen Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. Zum anderen die solidarische Lösung als einzig moralisch vertretbare, die allerdings den entwickelten Ländern gewaltige finanzielle Opfer abverlangt. Die müssen gleichzeitig die ständig wachsenden Kosten für ihr eigenes Gesundheitssystem finanzieren – vor allem bei der Behandlung alter Menschen. Auch da bestimmen multifaktorielle Krankheiten die Zukunft. Da sind die verschiedenen Krebsarten: Bei der Vorbeugung und den traditionellen Heilmethoden sind große Fortschritte erzielt worden, aber ein Ende der jetzigen relativen Stagnation in der Therapie kann nur auf zwei Wegen erreicht werden: durch die Immunologie und die Molekularbiologie (Gentherapie). Man könnte sich vorstellen, jedem Menschen sein immunologisches Repertoire zu clonen, eventuelle „Löcher“ darin aufzuspüren und zu reparieren, um sie so resistent gegen Krebs (und andere Krankheiten) zu machen. Aber solche Vorhaben sind sehr schwierig und könnten nur wenigen Menschen (nach welchen Kriterien ausgewählt?) zugute kommen. Die Entdeckung von infektiösen Elementen bei bestimmten Krebsarten wird wahrscheinlich zur Entwicklung von Impfstoffen führen. Der massive Einsatz des Impfstoffs Anti-Hepatitis B, den es bereits gibt, könnte das Auftreten von Leberkrebs verringern.
Dann die degenerativen Nervenkrankheiten: Auch sie sind multifaktorielle Krankheiten; wahrscheinlich gibt es ursprünglich einen infektiösen Erreger, der nach einer langen Latenz autoimmune Reaktionen hervorruft, die für das Nervensystem verhängnisvoll sind. Die Entdeckung von infektiösen Faktoren bei diesen Krankheiten wäre also von höchster Bedeutung. Sie wird wahrscheinlich im 21. Jahrhundert gelingen. Besonders furchtbar aber ist eine andere Erscheinung: die sogenannten „nichtkonventionellen“ Viren, die beim Menschen so seltene Erkrankungen wie etwa die Kreutzfeld-Jakobsche Krankheit auslösen, die aber bei Zuchttieren schon verbreitet sind: die sogenannte „Scrapie“ bei Schafen und der „Rinderwahnsinn“ (auch BSE, „bovine spongiforme Enzephalitis“, genannt). Die Erreger, offenbar modifizierte Proteine, lösen keinerlei Immunreaktion aus und sind damit absolut unauffindbar. Es ist möglich, daß sie in Berührung mit dem Nervensystem oder den Augen sogar durch hitzesterilisierte Instrumente übertragbar sind. Hoffentlich vermehren sie sich nicht im 21. Jahrhundert!
Die genetischen Krankheiten: Auch sie haben, wenn man so will, noch eine „blühende Zukunft“. Die Medizin als Bewegung gegen die natürliche Auslese begünstigt den Fortbestand und die Reproduktion von Mutationen, die früher durch die große Kindersterblichkeit verschwanden. Die genetischen Krankheiten von heute, die schon zahlreich sind, werden durch die Gentherapie beseitigt werden können. Aber wird das, was für eine begrenzte Anzahl von Menschen möglich ist, auch für viele machbar sein, die unter immer unterschiedlicheren genetischen Mängeln leiden?
Zusammenfassend kann man sagen, daß die medizinische Forschung für unsere Leiden (Krebs, degenerative Nervenkrankheiten, Gefäß- und genetische Erkrankungen) wunderbare, aber extrem kostspielige Lösungen finden wird. Sie wird immer mehr zu Präventivtherapien vor dem Auftreten von irreversiblen Beeinträchtigungen führen. Durch all diese Maßnahmen wird man bis zum Ende des 21. Jahrhunderts das Altern und den Tod vielleicht um 20 Jahre hinauszögern können. Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser biologischen Umwälzungen sind nicht vorhersehbar. Schon bevor sie stattgefunden haben, stellt sich die Frage, wem sie zugute kommen. Es ist klar, daß dies nicht eine 10 Milliarden zählende Menschheit sein wird, sondern daß neue Errungenschaften dem Entwicklungsniveau der Länder entsprechend verteilt werden.
Man könnte sich in einem optimistischen Szenario vorstellen, daß es durch internationale Bemühungen gelingt, Unterernährung sowie Parasitenbefall und Infektionskrankheiten in den tropischen Ländern einzudämmen. Dazu gehört eine absolute Kontrolle des Bevölkerungswachstums durch eine Erziehung, welche die traditionellen Verhaltensweisen verändert. Nach und nach werden die medizinischen Fortschritte, die heute schon den glücklichen Auserwählten in der nördlichen Hemisphäre zugute kommen, auch diese Länder erreichen. Man wird schließlich in einer Welt von Alten leben, die, unterstützt von Robotern, den größten Teil ihres Einkommens für ihr Gesundheitswesen ausgeben... Das alles mag ziemlich utopisch klingen, doch alle anderen Szenarien wären noch katastrophaler...
Luc Montagnier ist seit 1974 Forschungsdirektor beim Pariser C.N.R.S. Seit 1985 hat der Aidsforscher eine Professur am Pasteur-Institut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen