DER LETZTE MAUERTOTEN-PROZESS ENDET MIT VERURTEILUNGEN : Siegerjustiz, die nicht immer überzeugt
Mit der Verurteilung der Ex-SED-Politbüromitglieder Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz im letzten Mauertoten-Prozess geht ein Kapitel deutsch-deutscher Rechtsgeschichte zu Ende. Dabei kann der Vorwurf einer spezifisch westdeutschen Siegerjustiz eigentlich nicht mehr erhoben werden, seit Egon Krenz seinen Fall zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getragen hat. Dort entschieden 17 Richter aus West- und Osteuropa einstimmig: Die Verurteilung wegen der Mauertoten war kein Verstoß gegen das Verbot von rückwirkenden Strafbestimmungen. Vielmehr ist es richtig, DDR-Recht nachträglich „rechtstaatlich“ zu interpretieren. Auch dort war die Tötung von Menschen verboten. Das DDR-Grenzgesetz konnte keinen Schießbefehl rechtfertigen.
Allerdings waren die konkreten Tatbeiträge, wegen denen Exmitglieder des SED-Politbüros verurteilt wurden, meist mehr als dürftig. Die wesentlichen Entscheidungen zum Grenzregime fielen vor 1973. Krenz wurde für zwei nichts sagende Routinebeschlüsse verurteilt, Böhme und Lorenz fürs bloße Nichtstun. Sie hätten sich gegen das Grenzregime einsetzen müssen, so die Richter. Der Freispruch im ersten Verfahren war überzeugender.
Trotzdem kann man nicht sagen, bei den Mauertoten-Prozessen wären die Kleinen gehängt und die Großen laufen gelassen worden. Das Verhältnis ist genau umgekehrt: Die angeklagten Mauerschützen kamen fast durchgängig mit Bewährung davon, von den Politbüromitgliedern mussten einige jahrelang ins Gefängnis. Dies betont den politischen Charakter der Prozesse, die eben auch der Delegitimierung der DDR-Staatsführung dienten.
Bis zu 900 Mauertote sind ein guter Grund, die DDR als antihumanistische Diktatur zu brandmarken. Aber gerade nach Prozessen wie dem gestrigen bleibt das Gefühl, Exmitglieder des Politbüros wären wegen anderer Misstände angeklagt worden, hätte es keinen Schießbefehl gegeben. So gesehen waren die Mauerprozesse doch eine Art Siegerjustiz – im Ansatz und Ergebnis legitim, in der Durchführung nicht immer überzeugend.
CHRISTIAN RATH