DER FALL KEVIN ZEIGT, WIE SINNVOLLE MASSNAHMEN VEREITELT WERDEN : Simulation von Politik
Das Wort „Unterschicht“ und das Schicksal von Kevin in Bremen verweisen auf eine Verwahrlosung, die nicht nur am Rande der Gesellschaft zunimmt. Schließlich ist auch der Mensch ein resonanzbedürftiges Tier. Wenn sinnvolle Tätigkeiten und die Aussicht, dazuzugehören, schwinden, wenn mit dem Ausbleiben des Weckerklingelns am Morgen auch noch der Halt, den selbst ein mieser Job noch gibt, wegbricht, dann fallen viele Menschen in sich zusammen, und manche werden – sprichwörtlich – zu schrecklichen Tieren.
In wenigen Tagen schoss dieses Thema an die Spitze der Tagesordnung, die mehr und mehr aus Skandalisierungen besteht. Ein kleines Ereignis, oft nur ein Wort, reicht aus, um etwas, was in der Luft liegt, auskristallisieren zu lassen. Zusammenhänge werden sichtbar. Die Erregung müsste jetzt in Handeln übergehen, also zu Politik werden. Die Symptome müssten endlich zur Kenntnis genommen, eine Diagnose müsste gestellt, ein Therapieplan aufgestellt werden, der über Jahre geht und Änderungen der Lebensgewohnheiten verlangt. Aber nein. Kaum kommt etwas Tiefe auf – Ursula von der Leyen insistierte zu Recht darauf, dass neben der Familie öffentliche Orte für die Kindererziehung kultiviert und dass zugleich die Aufmerksamkeit von Hebammen und Pädagogen geschärft werden müsse –, da erobern schon wieder die Flachmänner Stoiber & Co die Schlagzeilen. Ihnen fällt nur Kontrolle durch den starken Staat ein.
Einige in SPD und CDU wittern Krisengewinne, sie bilden eine große Koalition mit der Fragestellung „Ist Schröder an allem schuld?“. Der Streit um Worte ist beliebt. Darf man „Unterschicht“ überhaupt sagen? Und ist, wer so spricht, nicht schon ein Komplize? Die Debatte verklumpt, bevor sie begonnen hat. Mit der Suche nach den Schuldigen gelingt jedes Mal die Entthematisierung des gerade zur Sprache Gebrachten. Zum Schluss dann das Halali zur Verbrecherjagd und Notstandsgesetze zur Pflichtuntersuchung von Kindern. Geschwätz und die Simulation von Politik sind wieder obenauf. Die Chance auf Erkenntnis und die Arbeit an der notwendigen Kultivierung von Orten für Kinder ist erfolgreich vereitelt. REINHARD KAHL
Der Autor ist Publizist und Bildungsexperte in Hamburg