DER FALL CAP ANAMUR ZEIGT: DIE EU BRAUCHT EINHEITLICHE ASYLREGELN : Recht statt Abschreckung
Was war das für eine Aufregung, als Innenminister Otto Schily Anfang dieser Woche vorschlug, afrikanische Asylbewerber lieber gleich in Afrika zu versorgen als später in Europa. Nicht nur Flüchtlingsorganisationen protestierten heftig. Auch wohlmeinende Politiker von SPD, FDP und Grünen geißelten Schilys Idee sofort, weil sie darin den Versuch erkannten, die Festung Europa weiter auszubauen. Aufnahmecamps in Diktaturen wie Libyen, Tunesien und Marokko? Wie um Himmelswillen sollen dann noch humanitäre Standards und internationale Schutzvorschriften eingehalten werden, wurde zu Recht gefragt. Bei aller Empörung schien es in dieser Diskussion aber um ein abstraktes Konstrukt zu gehen. Die Warnungen vor rechtsfreien Asylbewerberauffangräumen bezogen sich auf eine ferne, nur von Schily und einigen Unionspolitikern herbeischwadronierte Zukunft. So schlimm wird es schon nicht kommen, dachte man angesichts der vielen Gegenstimmen. Bis gestern. Am Ende dieser Woche muss man leider feststellen: Bei der Sorge vor einer extremen Abschottungspolitik geht es nicht um ein finster klingendes, aber unrealistisches Szenario. Es ist die Gegenwart 2004.
Während die Deutschen hin und her theoretisierten, was in Zukunft möglicherweise denkbar sei oder auch nicht, hat die italienische Regierung im wahrsten Sinn des Wortes über Nacht Fakten geschaffen – mit der Blitzabschiebung fast aller Cap-Anamur-Schützlinge nach Nigeria und Ghana. Ob die 37 Afrikaner Anspruch auf Asyl hatten, lässt sich aufgrund mangelnder Informationen schwer beurteilen. Ihre Abschiebung in Windeseile ist in jedem Fall ein Skandal. Alle Umstände deuten darauf hin, dass der Regierung von Silvio Berlusconi von Anfang an nicht daran gelegen war, die Berechtigung der Asylbegehren ordentlich zu prüfen. Zehn Tage können dafür nicht reichen – erst recht nicht, wenn Anwälten und Flüchtlingshelfern der Zugang zu den Abschiebekandidaten, wie offenbar geschehen, verwehrt wird. Mit ihrer Entscheidung, fast alle 37 Afrikaner in rasantem Tempo abzuschieben, setzte sich die italienische Regierung sogar über anders lautende Empfehlungen ihrer eigenen Asylkommission hinweg. Italiens Innenminister macht keinen Hehl daraus, worum es ihm in erster Linie ging: um Abschreckung. Um ein Signal an alle potenziellen Flüchtlinge, die nach Italien kommen könnten – und an ihre Helfer. Das eiskalte, ausschließlich politisch motivierte Ruckzuckverfahren ohne Einspruchsfrist macht sprachlos. Genau das aber darf nicht passieren: Schweigen. Wenn das Vorgehen Italiens von den anderen europäischen Regierungen toleriert, womöglich sogar wohlwollend hingenommen wird, muss man nicht mehr vor irgendwelchen Camps in Libyen warnen.
Welche Reaktionen, welche Konsequenzen aus der politischen Tragödie der Cap-Anamur-Rettungsaktion aber sollte es geben? Jetzt nur auf die brutalen Italiener einzudreschen wäre einfach. Zu einfach. So einfach, wie es sich sich die meisten EU-Länder bislang gemacht haben, indem sie die Lösung für das Flüchtlingsproblem im Mittelmeer allein den Anrainerstaaten aufgebürdet haben. Diese bequeme Haltung, das zumindest müsste inzwischen mehr als klar sein, führt nicht weiter. Jetzt sind gerade jene Politiker gefragt, die so hingebungsvoll vor vielleicht irgendwann einmal drohenden inhumanen Zuständen in Flüchtlingscamps auf nordafrikanischem Boden warnen. Wer eine derartige, immer weiter gehende Abschottung Europas wirklich verhindern möchte, muss sich dafür einsetzen, dass sich die EU-Asylpolitik komplett ändert. Dass endlich ein einheitliches, humanes EU-Asylrecht eingeführt wird.
Wenn Menschen, egal aus welchen Gründen, egal an welchen Stränden, in Europa um Asyl nachsuchen, muss sich künftig ganz Europa für zuständig erklären. Finanziell und logistisch. Die Kosten müssen verteilt werden. Das Schwarze-Peter-Spiel der Regierungen muss aufhören. Es ist unerträglich, dass Schiffbrüchige abgewiesen oder blitzschnell abgefertigt werden, weil die Mittelmeerländer befürchten, dass sie einmal aufgenommene Flüchtlinge nie mehr loswerden. Den Behörden, die Asylanträge prüfen, muss klar sein, dass auch andere Länder wie Deutschland und Frankreich bereit sind, die weitere Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zu übernehmen. Sonst werden sie weiter gnadenlos wie jetzt Italien vorgehen.
Leider gibt es wenig Grund zur Hoffnung, dass sich Europa zu seiner gemeinsamen Verantwortung bekennt und zu entsprechendem Handeln aufrafft. Im Gegenteil. Statt ihre sture Abwehrhaltung wenigstens zu überdenken, versuchen Politikern wie Schily, das Problem langfristig ganz nach Afrika zu verlagern – und die Schuld an der Misere kurzfristig der „Cap Anamur“ zu geben. Der grobe Fehler von Elias Bierdel, sich als Held und seine Schützlinge als Sudanesen zu „verkaufen“, ändert jedoch nichts daran, dass die Rettung Schiffbrüchiger richtig bleibt – und dass die 37 Afrikaner Anspruch auf ein faires Verfahren gehabt hätten.
LUKAS WALLRAFF