DER DEFINITIONSSTREIT UM DEN BEGRIFF „UNTERSCHICHT“ IST VERLOGEN : Lob der klaren Worte
Wenn ein Schiff untergeht, dann kann die Mannschaft einiges tun. Beispielsweise versuchen, die Passagiere zu retten. Oder eine Diskussion darüber führen, ob das Ereignis als Katastrophe oder als Unglücksfall bezeichnet werden sollte. Letzteres würde wohl kaum als sinnvolle Sofortmaßnahme betrachtet werden. Nicht einmal von führenden SPD-Politikern. Was sie nicht daran hindert, angesichts der inzwischen unleugbaren Armut im Land engagiert über Definitionen zu streiten.
Franz Müntefering hält den Begriff der Unterschicht für „Soziologendeutsch“. Fände er es besser, wenn stattdessen von Prolls oder Assis die Rede wäre? Gewiss: das zeugte von Bürgernähe. Es hieße, dem Volk aufs Maul zu schauen. Allerdings wäre es kaum weniger ausgrenzend. Aber Müntefering meint ja ohnehin, dass es keine Schichten gibt in der deutschen Gesellschaft. Für etwas, was es nicht gibt, muss auch keine korrekte Bezeichnung gefunden werden. Die Oberschicht dürfte das freuen. Ihr kann es nur recht sein, wenn Sozialdemokraten behaupten, dass sie gar nicht existiert.
Der Kampf um Begriffe ist manchmal ein Mittel der Emanzipation. Wenn ein afrikanischer Hausangestellter nicht mehr als „Boy“, eine unverheiratete Frau nicht mehr als „Fräulein“ und die Reinigungskraft in einem Hotel nicht mehr als „Zimmermädchen“ bezeichnet wird, dann haben sich diese Gruppen erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Würde ihrer erwachsenen Existenz nicht von äußeren Faktoren abhängig gemacht wird. Wenn Homosexuelle sich selbst „schwul“ nennen, dann haben sie eine absichtsvolle Beleidigung selbstbewusst in eine Bestimmung der eigenen Identität umgedeutet. Das alles sind große Leistungen.
Aber nicht jeder Streit um Worte ist eine Leistung. Manchmal dient er auch nur dazu, von Problemen abzulenken. Die Arbeit einer Putzfrau wird nicht dadurch leichter, dass sie als Raumpflegerin bezeichnet wird. Ein Azubi genießt kein größeres Ansehen als ein Lehrling. Und keiner Unterschichtfamilie geht es besser, wenn man ihr versichert, dass es sie eigentlich gar nicht gibt. Es wäre nützlicher, Rettungsringe auszuwerfen. BETTINA GAUS