piwik no script img

Archiv-Artikel

DER BUNDESTAG HAT DIE ROT-GRÜNEN REFORMEN ANGENOMMEN Immer auf die Kleinen – wie altmodisch

Glückwünsche sind angebracht. Der Kanzler hat seine Mehrheit, die vormaligen Dissidenten haben kleine, aber achtbare Erfolge erzielt, und der SPD-Fraktionsvorsitzende konnte Führungsstärke beweisen. Viel Anlass zur Genugtuung. Die Stunde der Opposition kommt erst noch, aber sie kommt: Im Bundesrat darf sie demnächst wieder einmal zeigen, dass die Pervertierung des föderalen Prinzips jede Koalition zur Untätigkeit verdammt. Auch Vorfreude sorgt für gute Laune. So lässt sich befreit über Abstimmungspannen lachen.

Die Bevölkerung hat weniger Anlass zur Freude. Eine Unterstellung, die Politiker über Pateigrenzen hinweg immer wieder äußern, wird durch Wiederholung nicht richtiger: dass nämlich alle Leute nur um Besitzstandswahrung kämpften. Das gilt für Lobbyisten – deren Aufgabe es ist, sich für ihre Auftraggeber einzusetzen –, nicht aber für die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler. Die weiß ohnehin, dass die Zukunft teurer wird.

Die Verhältnisse sind grundlegend andere als zu Bismarcks Zeiten. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind im Kampf um den sozialen Frieden längst nicht mehr allein kriegsentscheidend. Vermögen, über das inzwischen selbst weite Teile der unteren Mittelschicht verfügen, spielt eine mindestens ebenso große Rolle. Erbe, Immobilien, Lebensversicherungen und Aktien. Die Grundfrage allerdings ist geblieben: Wie weit darf die soziale Schere in einer stabilen Gesellschaft auseinander klaffen?

In dieser Hinsicht agiert nicht die Bevölkerung, sondern die politische Klasse überaus altmodisch. Parteiübergreifend. Sie setzt das Sparen bei denjenigen an, die sich nicht wehren können, also bei den Schwächsten. Schon wahr: Seit man weiß, was die CDU alles für legitim hält, ist man versucht, die SPD wieder für die Partei der sozialen Gerechtigkeit zu halten. Dieser Versuchung sollte man nicht nachgeben. Vermögensteuer, Anhebung der Erbschaftsteuer, die gleichmäßige Besteuerung aller Einkommensarten, der Abbau von Beamtenprivilegien: Solange sich niemand an diese Fragen wagt, würdigt sich das Parlament selbst zu dem herab, was es gestern bot. Ein Schattenspiel.

BETTINA GAUS