DER BRIEF DER FLICK-TOCHTER: EINE CHANCE ZUR AUFKLÄRUNG : Diskussion statt Diskretion
Von Roland Barthes stammt die Wendung von der „Letzten Figur“. Sie ist für ihn „eine Art Drehscheibe, die es ermöglicht, den Feind festzustellen, zu erklären, zu verurteilen, zu bespucken, zu vereinnahmen, mit einem Wort: ihn zahlen zu lassen“. Als Beispiele führt der Denker an: das marxistische Reden, „bei dem jeder Einwand ein Klasseneinwand“ ist, das psychoanalytische Reden, „bei dem jede Verleugnung ein Geständnis“ ist, und das christliche Reden, „bei dem jede Ablehnung eine Suche“ ist. Nach den öffentlichen Reaktionen, die auf den offenen Brief folgten, den Dagmar Ottmann in der Zeit publizierte, lässt sich das konservative Reden von der Familie hinzufügen. Bei ihm ist jeder Versuch, zur eigenen Familiengeschichte Stellung zu nehmen, eine Peinlichkeit.
Dagmar Ottmann, eine 52-jährige Literaturwissenschaftlerin, hat bislang alles getan, um verantwortungsvoll mit dem schwierigen Erbe umzugehen, das als Tochter des Unternehmers Otto-Ernst Flick auf sie kam. Anders als ihr Bruder, der Kunstsammler Friedrich Christian Flick, zahlte sie in den Zwangsarbeiter-Fonds ein. Außerdem unterstützt sie eine wissenschaftliche Untersuchung zur Familiengeschichte, auch während der Nazizeit. Das alles tat sie dezent. An die Öffentlichkeit trat sie nun, um den Pauschalvorwürfen gegen die Familie Flick ein differenziertes Bild entgegenzuhalten. Das ist ihr gutes Recht. Aber sofort wird ihr vorgeworfen, öffentlich schmutzige Familienwäsche zu waschen. Mitgefangen, mitgehangen – oder was?
Über die eigene Familie spricht man nicht! Das gehört zu den eisernen, urdeutschen Grundsätzen. Allerdings hatte man gehofft, dass sie spätestens 1968 jegliche Macht verloren haben. Man sollte den Satz heute als das durchschauen können, was er ist: ein rhetorischer Trick, um Aufklärung zu verhindern. Dagmar Ottmanns offener Brief hat mit Peinlichkeit nichts zu tun. Ein Mitglied der Familie Flick macht hier das Angebot, gemeinsam darüber nachzudenken, was für Folgerungen aus der Familiengeschichte der Flicks zu ziehen sind. Es wäre eine vertane Chance, würde man dieses Angebot leichtfertig ausschlagen. DIRK KNIPPHALS