DER ANTISEMITISMUSVORWURF GEGEN PARIS HAT POLITISCHE GRÜNDE : Erprobte politische Waffe
Vor dem Hintergrund der millionenfachen nationalsozialistischen Massenmorde an den Juden gibt es eine moralische Verpflichtung, jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen. Und ganz besonders sorgfältig gilt es hinzuschauen, wenn irgendwo antisemitische Haltungen oder Aktionen auftauchen. Das gilt auch und gerade gegenüber einem Land wie Frankreich, das für sich in Anspruch nimmt, die Heimat der Menschenrechte zu sein: Wenn nämlich die Zahl der rassistischen Übergriffe insgesamt – und der antijüdischen Übergriffe im Besonderen – zunimmt, muss man eingreifen.
Freilich wird der Antisemitismusvorwurf gelegentlich auch als politische Waffe benutzt, auch in der internationalen Politik. Während der Vorbereitungen und des Beginns des Irakkrieges wurde in den USA regelmäßig der Vorwurf des Antisemitismus gegen Frankreich laut. Nach Kriegsende, und im Zuge der allmählichen Wiederannäherung zwischen Paris und Washington, sind diese Vorwürfe in den USA wieder verstummt. Obwohl es weiterhin rassistische Übergriffe in Frankreich gibt.
Nun steht ein neuer Antisemitismusvorwurf gegen Frankreich im Raum. Dieses Mal vom israelischen Regierungschef Ariel Scharon. Er behauptet, in Frankreich breite sich „entfesselter Antisemitismus“ aus. Und er fordert die französischen Juden auf, ihr Land eiligst in Richtung Israel zu verlassen. Als Datum für diese Erklärung hat Scharon einen Tag gewählt, der besonders schmerzt in Frankreich: den 62. Jahrestag der größten antijüdischen Razzia der Pariser Polizei.
Dennoch sticht bei Scharons Auftritt vor allem der aktuelle politische Hintergrund ins Auge. Frankreich kritisiert offen die israelische Palästina-Politik. Frankreich verlangt seit langem eine politische Lösung des Nahostkonflikts. Und der französische Außenminister hat dies erst vor wenigen Tagen bei einem im Israel misstrauisch beäugten Besuch bei Palästinenserführer Arafat erneut betont. Es ist diese kritische Stimme auf der internationalen Bühne, die Scharon in Misskredit bringen will: Irgendetwas wird von den Vorwürfen schon hängen bleiben. DOROTHEA HAHN