DEBATTE: Vom Fatalismus der Geschichte
■ Auf der Suche nach moralischen Instanzen jenseits der Gauck-Behörde
Ich kann sie verstehen, Biermanns Wut über das weinerliche Selbstmitleid, das einem aus dem östlichen Teil Deutschlands jetzt überall entgegenschallt. Da wird die neue Diktatur an die Wand gemalt, noch bevor die ersten Schritte in die mögliche Demokratie überhaupt versucht wurden. Da werden Heimeligkeit und Wärme in der alten DDR beschworen und die Dumpfheit des Stalls mit der Solidarität in Freiheit verwechselt.
Ich kann sie verstehen, diese Wut. Und dennoch geht es mir anders. Wer in den Grenzstädten zu Polen nur die grölenden Skinheads und die Steinwerfer sieht, der war nicht dort, um die Zeichen der Hoffnung zu sehen. In jeder dieser Städte gibt es Gruppen der Begegnung und der Freundschaft mit den Nachbarn jenseits der Oder und Neiße. Nicht erst nach den Ausschreitungen entstanden oder als Verlängerung der offiziell verordneten Freundschaft existierend, werden hier seit Jahren Kontakte geknüpft und Brücken geschlagen. Es gibt auch Einwohner in anderen Städten, die sich schützend vor die Flüchtlingsheime stellen, obwohl sie selbst arbeitslos sind und dem sozialen Aus entgegensehen. Meine Wut wird viel stärker, geht es um die Verlogenheit der Politiker, die Toleranz und Demokratie beschwören und sich weigern, vor Ort Veränderung zu schaffen, um wirksamen Schutz zu organisieren.
Man trifft so gut wie alles in den Trümmern der alten DDR: den Zynismus der Wendepolitiker, die Bereitschaft, von einer Untertanenrolle in die nächste zu schlüpfen, aber auch die echte Verzweiflung und die große Hilflosigkeit beim Sturz ins Leere. Mir bleibt der Stachel im Fleisch, denn die Trauergestalten sind echt, und ich weiß verflucht noch mal, wie schwer es ist, sich die Unmündigkeit aus dem Leibe zu reißen.
Die „Lichtgestalten der Opposition“ sind ebenso zerrissen zwischen Enttäuschung und trotzigem Weitermachen. Sie haben sich die Heldenrolle auch früher nicht ausgesucht und nicht das Volk, dem jeder Schritt zuviel war und jede freie Meinung schon als Aufstand galt. Wer Untertan blieb in dieser DDR, wer die Illusionen über die Verbesserung von oben bis zum Schluß mitschleppte und wer es schaffte, sich davon frei zu machen, die Hoffnung nicht mehr im Käfig zu suchen, davon könnte Wolf Biermann tausend Lieder singen. Heute nur den Druck und die Angst oder die geschäftige Gleichgültigkeit als Lebenselemente dieser DDR zu sehen, brächte keiner fertig, der sie selbst erlebt hat.
Bis zum Schluß gab es den Kampf um die Seelen und Köpfe, denn nur mit Lumpen und Opportunisten wäre das Land längst zusammengebrochen. Und auch die Stasi war Teil dieses Kampfes. Sie haben mich lange genug umgarnt, damals an der Universität. Nicht mit Drohungen oder mit Karrierelocken — damit hätte man so einem jungen idealistischen Genossen, der seine Kritik durch alle Instanzen schleppte, zu schnell die Augen geöffnet.
Sich selbst als Medium der Kritik darzustellen und an die Verantwortung zu appellieren, nichts unversucht zu lassen, um gegen Ignoranten und Dogmatiker durchzukommen, auch das versuchten sie. Wer weiß, ob ich ihnen ohne Freunde und rechtzeitige Erfahrungen aus dem Netz gesprungen wäre. Sie haben den Kampf um meine Seele verloren, wie auch die Partei, und es mir mit doppeltem Haß und Erbitterung zurückgezahlt.
Mich haben diese Erfahrungen resistent gemacht gegen alle Flausen vom Marsch durch die Institutionen und die Korridore der Macht. Was dort winkte, war immer nur der gekrümmte Rücken und das Warten auf Godot. Wie viele blieben aber in dieser Illusion stecken und machten sich klein, weil die Illusion die schäbige Anpassung vergoldete?
Biermann erlebte über Jahrzehnte die Feigheit der Intellektuellen und Schriftsteller, die den Stiefel küssen, der sie tritt. Es gab aber auch genug Versuche, ohne zur Opposition zu gehen, Menschenwürde und Zivilcourage zu erhalten und für das eigene Leben in der DDR eine Perspektive zu suchen. Vom Oppositionellen der Hauptstadt bis zum Töpfer in irgendeinem mecklenburgischen Nest oder dem Klubhausleiter in der Kleinstadt reichte die Kette derer, die sich dem Fatalismus entgegenstemmten. Und auch die Verstrickung in das System, in Schuld und Verrat, hatte Tausende Gesichter. Das reichte vom bekloppten und hilflosen Versuch, die Stasi mit den eigenen Methoden zu hintergehen, um die Freunde zu schützen — bis zum üblen Denunziantentum und dem Verrat an den Freunden.
Wir können uns die quälenden Fragen nicht ersparen, was es beim einzelnen nun wirklich war, das ihn auf die eine oder die andere Seite trieb. Es dürfen aber nicht nur vermeintliche oder tatsächliche Akten(zeichen) sein, die wir jetzt gegeneinander schwenken — vor allem solange uns die Akten verschlossen bleiben. Was Biermann zu seiner Beschuldigung gegen den Ost-Lyriker Sascha Anderson trieb, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, wie schnell Menschen kaputtgemacht werden können, wenn sich ein solcher Streit nicht entscheiden läßt. Die Akten sind das eine — ihr echter Teil und ihr manipulierter. Um ein anständiges Gesetz hierzu muß weiter gekämpft werden. Das andere muß unser Versuch bleiben, uns nicht der zerstörerischen Logik von Mißtrauen und Verdächtigungen auszuliefern.
Bis zum Überdruß kenne ich die Rechtfertigungen und Beschwichtigungen der wirklich Belasteten. Auch sie haben nur das Beste gewollt und die höheren Zwecke gesehen und alles nicht so verstanden, wie es war. Gerade darum aber müssen wir zu unterscheiden lernen zwischen diesem Geschwafel und der wirklichen Angst, sich anzuvertrauen und die eigene Schwäche und Verblendung einzugestehen, wo sie noch gar nicht zur Schuld wurde.
Im Prenzlauer Berg soll die Auseinandersetzung um die Möglichkeiten der Kunst und die Frage, wer nun dazu und wer zu anderem begabt ist, seit Jahren toben. Dort muß jetzt auch die Frage diskutiert werden, ob es außer der Gauck-Behörde überhaupt noch moralische und menschliche Instanzen gibt, die Frage von Kunst und Stasi zu beantworten. Wolfgang Templin
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