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DEBATTEZwischen Prinzip und Opportunität

■ Zum Problem der diplomatischen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens

Noch vor Weihnachten, versprach Genscher, werde Deutschland Slowenien und Kroatien als unabhängige Staaten diplomatisch anerkennen. Sein italienischer Amtskollege De Michelis will denselben Schritt bis spätestens zum Jahresende vollzogen haben, und die Österreicher kündigen an, man werde schon am kommenden Dienstag nach dem Gipfeltreffen der europäischen Außenminister so weit sein. Bloß keine Alleingänge, so andererseits die Warnung aus London, Den Haag und Paris und nun auch vom UNO-Generalsekretär Pérez de Cuéllar persönlich. Das Problem einer diplomatischen Anerkennung hat einen prinzipiellen Aspekt, unter dem das Recht auf Selbstbestimmung und die völkerrechtlichen Voraussetzungen für eine Anerkennung diskutiert werden müssen. Und es hat einen pragmatischen Aspekt, der sich in der Frage zusammenfassen läßt: Erleichtert oder erschwert es ein solcher Schritt, dem Krieg in Jugoslawien ein Ende zu setzen? Die prinzipielle Frage ist relevant, weil Völkerrecht und internationale Regeln und Standards nicht leichtsinnig zwecks Lösung eines singulären Falls ignoriert werden dürfen. Die Frage nach der Opportunität legitimiert sich andererseits allein schon aus dem Ausmaß der Katastrophe und der Zahl der Opfer.

Auf prinzipieller Ebene muß das Recht auf Selbstbestimmung anerkannt werden. Doch wer sind die Subjekte dieser Selbstbestimmung? Die Kroaten, Serben, Mazedonier usw. als Völker? Oder Kroatien, Slowenien, Serbien, Mazedonien usw. als Republiken? In der UNO-Charta von 1945 ist zwar von einem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ die Rede. Doch die ethnische Durchmischung Jugoslawiens läßt die Volkszugehörigkeit als Grundlage staatlicher Selbstbestimmung praktisch nicht zu. Zunächst kann es also nur um die zweite Variante gehen, also um eine Sezession, wie sie im übrigen die jugoslawische Verfassung explizit zuläßt. Und darum ging es faktisch, als Slowenien und Kroatien Ende Juni ihre — dann vorerst sistierte — Unabhängigkeit erklärten. Eine so verstandene Selbstbestimmung löst nun allerdings nicht nur Probleme, sondern schafft auch neue, etwa das Problem einer serbischen Minderheit in Kroatien, die nun nicht mehr in einem jugoslawischen, mithin serbisch mitbestimmten Staatsverband lebt. Eine Lösung zeichnet sich hier nur ab, wenn sich Kroatien nicht als Staat der Kroaten versteht, sondern als Staat aller ex- jugoslawischen Bürger, die auf seinem Territorium leben, und wenn es nationalen Minderheiten Rechte zugesteht, die auch in einem europäischen Rahmen verbrieft und kontrolliert werden müßten. Zwischen souveränen Staaten einvernehmlich beschlossene Grenzkorrekturen sind danach immer noch möglich.

Das Recht auf Selbstbestimmung impliziert auch ein Anrecht auf diplomatische Anerkennung selbstbestimmter Souveränität. Doch wäre eine Anerkennung im Falle Kroatiens nach der klassischen Völkerrechtslehre eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, solange im Konflikt um die Abspaltung eines Teils dieses Staates noch Kampfhandlungen im Gange sind. Unabhängig davon, daß das Prinzip der Nichteinmischung, so wie es völkerrechtlich in der Helsinki-Akte festgeschrieben ist, nach dem Zusammenbruch des bipolaren Weltsystems überdacht werden muß, böte sich im aktuellen Fall die Lösung an, Jugoslawien den Status eines souveränen Staats abzuerkennen. Die Schiedskommission der EG, die sich aus fünf europäischen Verfassungsgerichtspräsidenten zusammensetzt, hat da den Weg gewiesen. Sie stellte fest, Jugoslawien sei im Zerfall begriffen und die einzelnen Republiken seien seine Rechtsnachfolgerinnen geworden. Dieses Urteil entspricht einer Faktizität und trägt auch der Tatsache Rechnung, daß Jugoslawien nach dem Zerfall des Staatspräsidiums seit Anfang Oktober kein verfassungsmäßiges Staatsoberhaupt mehr hat und die Armee keiner politischen Instanz mehr untersteht.

Das Für und Wider in pragmatischer Hinsicht

Gegen eine umgehende Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens sprechen also vor allem Gründe der politischen Opportunität. Ein solcher politischer Akt könnte eine Verhandlungslösung erschweren, indem er eine der verfeindeten Seiten düpiert. Er könnte auf Seiten der neuen, anerkannten Staaten falsche Hoffnungen auf einen militärischen Beistand nähren und somit deren Kriegswillen bestärken. Ein Alleingang Deutschlands würde zudem nicht nur den in Maastricht eben wieder bekräftigten Willen, zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik zu finden, konterkarieren. Sie würde vor allem in Serbien auch historisch begründete Ängste vor deutschen Machtansprüchen wachrufen und zu einer Frontbegradigung führen, die die gerade jetzt aufbrechenden innerserbischen Konflikte wieder übertüncht. Auch wenn Italien und Österreich mitzögen, würde dies wenig ändern, haben doch auch sie auf dem Balkan ihre sehr spezifischen geschichtlichen Spuren hinterlassen. Überdies spielt angesichts der Perspektive einer sich neu formierenden Staatenwelt im Osten und Südosten Europas der Fall Jugoslawien die Rolle eines Vorreiters. Das heißt, eine aus kurzsichtigem politischem Kalkül motivierte Anerkennung könnte hier die Pflöcke möglicherweise am falschen Ort einschlagen.

Von einem pragmatischen Standpunkt aus betrachtet spricht wenig für eine Anerkennung Kroatiens zu diesem Zeitpunkt. An der Situation würde sie nichts ändern, solange dem diplomatischen Schritt nicht die militärische Hilfe folgen würde. Dies aber verbietet sowohl das Gesetz wie die Vernunft. Eine militärische Intervention auf Seiten Kroatiens würde den Konflikt mit Sicherheit verschärfen, den Krieg wahrscheinlich auf bislang noch ruhige Regionen Jugoslawiens, wenn nicht gar über dessen Grenzen hinaus, ausweiten, und sie würde eine politische Lösung in jedem Fall erschweren.

Der Ruf nach Anerkennung ist angesichts der Barbarei dieses Krieges mehr als verständlich. Zwar trägt die politische Führung Kroatiens einen gehörigen Teil Mitschuld an der heutigen Situation. Doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß heute der Krieg von einer hochgerüsteten serbisch kontrollierten Armee ausschließlich in und gegen Kroatien geführt wird. Kroatische Städte und Dörfer werden bombardiert; nicht Novi Sad oder Nis, sondern Dubrovnik wird seit über zwei Monaten belagert; die über eine halbe Million Flüchtlinge, unter ihnen übrigens auch viele, die der serbischen oder ungarischen Minderheit angehören, kommen zum allergrößten Teil aus Kroatien; und es gibt keine kroatischen Truppen jenseits der Grenzen Kroatiens, jedenfalls noch nicht, wohl aber fremde Truppen in Kroatien. Eine diplomatische Anerkennung würde hier Klarheit schaffen, zwischen Angreifern und Verteidigern unterscheiden, und, eingeschränkt, auch zwischen Opfern und Tätern.

Eine förmliche Anerkennung würde hier also sicher ein öffentliches Zeichen setzen. Ein Zeichen, das vielen Kroaten endlich das Gefühl vermitteln würde, Europa lasse sie doch nicht allein, ein Zeichen andererseits, das in Serbien weithin als Bestätigung des von der politischen Führung verbreiteten Bildes vom Vierten Reich, das dem faschistischen Kroatien zu Hilfe eilt, aufgefaßt würde, ein Zeichen, das ansonsten kaum etwas ändern würde. Wenn man das Für und Wider abwägt, scheint so doch vieles für die Position des UNO-Generalsekretärs und gegen die auf den ersten Blick zwar durchaus sympathische Position Kohls und Genschers zu sprechen. Die Kriegsmüdigkeit in Serbien wächst, die Desertionen nehmen zu, die politische Führung in Belgrad leidet unter einem rapiden Popularitätsverlust, und ein harter Winter kündigt sich an. All dies könnte zu einer Aufweichung der serbischen Front führen. Es bestehen durchaus Chancen, daß bei der Friedenskonferenz in Den Haag, die nächste Woche wieder aufgenommen wird, am Verhandlungstisch ein Kompromiß über eine Stationierung von UNO-Truppen erzielt wird und somit zumindest die militärischen Auseinandersetzungen fürs erste eingedämmt werden. Das wäre in Jugoslawien, wo der Krieg bei Bedarf jederzeit auch in heute noch ruhige Regionen getragen werden kann, schon viel. Thomas Schmid

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