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DEBATTEGesprächsverweigerung

■ Die Öffnung der Stasi-Akten kann nur ein erster Schritt sein

Schon die ersten Tage der Einsicht in die Stasi-Akten haben genügend alptraumartiges Material ans Licht gebracht, um das vernichtende Urteil über die DDR weiter zu untermauern. Nicht der Zustand ihrer Volkswirtschaft oder die Korruptheit der politischen Klasse, sondern erst die Praktiken, mit denen das Regime die Unangepaßten verfolgte, lassen den Untergang der DDR als beruhigende Wendung der Geschichte erscheinen. Allein was die Einsicht in die Akte des sächsischen Innenministers zutage brachte, sollte ausreichen. Ein Staat, der die wenigen, die sich ihm widersetzten, mit derart perfiden Methoden zu zerstören suchte, ist zu Recht mißratene Geschichte geworden. Die letzten Anknüpfungspunkte für DDR-Nostalgiker — und das allein mag schon die umstrittene Öffnung der Archive rechtfertigen — zerrinnen unter dem Eindruck dessen, was in den Lesesälen der Gauck-Behörde offenbar wird. DDR-Nostalgie gerät nach Inkrafttreten des Stasi-Akten- Gesetzes zur ignoranten Spielart der Täter-Apologie.

Die gegen Heinz Eggert realisierten Maßnahmen korrigieren das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild von der Staatssicherheit als einem aufgeblähten Überwachungsapparat, der — von seinem Ende her gesehen — leicht wie ein paranoid gewordener Papiertiger erschien. An Eggerts Horrortrip durch die Behandlungszimmer der als Mediziner getarnten Stasi-Büttel wird deutlich, daß die Überwachung nur den, wenn auch infamen, so doch harmloseren Teil der Stasi-Aktivitäten ausmachte. Die flächendeckende Bespitzelung bildete nur die Basis für die umfassende Kontrolle. Wo diese aber an einzelnen Individuen zu scheitern drohte, wurde ein facettenreiches Zerstörungswerk gegen die psychische und physische Unversehrtheit der Betroffenen in Gang gesetzt. Erst an den mit deutscher Gründlichkeit entwickelten „operativen Maßnahmen“ wird der diabolische Charakter des Sicherheitsapparates erkennbar.

Von vierzig Jahren Sozialismus wird — außer den tristen Erfahrungen — nur das Bestand haben, was nach dem Willen der Stasi-Funktionäre und ihrer Helfer unter keinen Umständen Bestand haben sollte: die Biographien der BürgerrechtlerInnen, die ihren widerständischen Impuls gegen alle Versuche der Manipulation, Diffamierung, Degradierung und Zersetzung durchzuhalten vermochten. Die undeutschen oppositionellen Tugenden der Poppes, Bohleys, Templins markieren die raren Bruchstellen im DDR-Totalitarismus. Allenfalls trösten sie über die deprimierenden Tatsachen hinweg, die aus den Akten hervorquellen.

Wer verfolgt, wie die Betroffenen jetzt anhand der Aufzeichnungen ihrer Überwacher versuchen, die eigenen Biographien zu rekonstruieren, der wird bei allen Risiken der weiteren Entwicklung schwerlich am Sinn der Aktenöffnung zweifeln. Dabei ist der dürre Begriff der informationellen Selbstbestimmung kaum angemessen, den Vorgang der Akteneinsicht zu fassen. Er scheint so weit von dem entfernt, was sich derzeit in den Archiven abspielt, wie die Lebenswirklichkeit der alten Bundesrepublik von derjenigen in der früheren DDR. Für die Menschen, die zum Objekt operativer Maßnahmen wurden, geht es nicht einfach darum zu wissen, welche Informationen über sie gespeichert wurden und wer sie gesammelt hat. Vielmehr gerät ihnen das Aktenstudium zu einer Wiederaneignung ihrer eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Die gespeicherten Informationen bilden den Schlüssel, mit dem erst der insgeheim manipulierte, der Stasi-produzierte Anteil an der eigenen Biographie erkennbar wird. „Wir müssen da durch, um das abschließen zu können“, meint Gerd Poppe. Kein gesamtdeutscher Gesetzgeber hätte das Recht gehabt, ihm das zu bestreiten.

Gegen den Mythos von der Verstrickung aller

Mit der Öffnung der Archive, zu der kein anderer osteuropäischer Staat sich bislang bereitfinden konnte, wird zumindest für eine kurze Zeitspanne eine längst überfällige Balance hergestellt. Das öffentliche Augenmerk galt einen Moment lang nicht mehr ausschließlich der spektakulären Enttarnung der Täter, sondern den Opfern. Damit verlor auch die Argumentation ihre Plausibilität, die an der DDR — zumindest seit ihrem Verschwinden — immer nur das unentwirrbare Ineinander von Tätern und Opfern erkennen wollte. Das allfällige Statement von der Ununterscheidbarkeit, die Rede vom „halben Leben“, das man nehmen mußte, weil es kein anderes gab, wurde mit den ersten Tagen der Akteneinsicht ad absurdum geführt. Ohnehin verbirgt sich dahinter nicht selten die Weigerung, sich zu erinnern, die mit der eigenen früheren Rolle verwoben ist. Scheinplausibler jedenfalls als mit dem Verweis auf die Identität von DDR-Gesellschaft und Stasi, auf die Verstrickung aller, ließ sich bislang der Versuch der Aufarbeitung nicht abwehren.

Das gilt zu einem nicht geringen Teil für den Westen, der weiterhin die Rolle des Voyeurs einnimmt. Aus dessen vermeintlich außenstehender Position kamen bislang die plausibelsten Formulierungen für einen Schlußstrich. Doch die zweiflerische Frage etwa, ob man denn selbst widerstanden hätte, ist nicht immer nur Ausdruck selbstkritischer Zurückhaltung. Die in der Frage rhetorisch angedeutete Identifikation mit den Angepaßten und Kollaborateuren erscheint eher als das letzte Residuum der Ignoranz von gestern. Wer, außer den eingefleischten Antikommunisten vom Schlage eines Gerhard Löwenthal, hätte — sagen wir 1987 — dem sächsischen Pfarrer Eggert die Geschichte abgenommen, mit der der sächsische Innenminister uns heute das Gruseln lehrt? Will heißen: Der Westen sollte nicht mit hypothetischen Fragen und beschwichtigendem Gestus die Aktenöffnung begleiten, sondern sich am eigenen Part bei der Stabilisierung des Regimes und der Marginalisierung der Opposition abarbeiten. Doch symptomatisch für den Umgang mit dem westlichen Teil der DDR-Geschichte ist eher die souveräne Art, mit der sich die Berliner Alternative Liste und die Grünen über den Fall ihres langjährigen Stasi-Einflußagenten Dirk Schneider hinwegsetzten. Das westliche Verständnis für den verbreiteten Unwillen der ehemaligen DDR-Bevölkerung, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ist alles andere als uneigennützig. Eher ist es die nette Verkleidung für ein deutsch-deutsches Stillhalteabkommen.

Aufarbeitung bleibt auf die ehemalige DDR beschränkt; dort ist sie einzig Sache der Opfer; ein vom Gesetzgeber individualisiertes Querfeldein durch die Akten. Wenn das so bleibt, muß die Aufarbeitung mißlingen. Denn alle individuellen oder gesellschaftlichen Formen sind, so paradox es klingen mag, auf die Kooperationsbereitschaft der Täter angewiesen. Nur wo sie rückhaltlos über die Gründe ihrer Tätigkeit zu reden beginnen, ließe sich der konspirative Bann der Staatssicherheit lösen. Doch für die allermeisten Täter gilt auch nach dem 2. Januar, daß sie das weder als Chance für sich selbst begreifen noch den Erklärungsanspruch der Opfer akzeptieren. Vom Selbstmordversuch des kleinen Spions aus der oppositionellen Szene über das Abtauchen Ibrahim Böhmes bis zur unverschämten Forderung Sascha Andersons, er wolle jetzt endlich seine „Opferakte“ sehen, reichen die Varianten der Gesprächsverweigerung. Mit ihr, nicht mit der Öffnung der Akten, wie gern gemutmaßt wird, feiert die Staatssicherheit ihren letzten Erfolg.

Die Einsicht in die Akten war aus der Perspektive der Opfer unabdingbar; ihr Anspruch wurde zu Recht über alle anderen, skeptischen Erwägungen gestellt, und die ersten Erfahrungen rechtfertigen — über die symbolische Umkehrung der einstigen Herrschaftsordnung hinaus — die getroffene Entscheidung. An den Risiken, die mit der Öffnung der Stasi-Archive verbunden sind, ändert das jedoch nichts. Ob damit ein heilsamer gesellschaftlicher Prozeß initiiert wurde oder ob der unaufhaltsame, deprimierende Informationsfluß am Ende doch nur paralysierend wirkt, bleibt offen. Nur wenn es gelingt, die Angst zurückzudrängen und die Täter zum Reden zu bringen, und wenn die Gesellschaft nicht auch noch die Last der Erinnerung allein den Opfern aufbürdet, ist eine glückliche Wendung, die Perspektive auf Versöhnung, denkbar. Matthias Geis

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