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DEBATTEVoodooDada

■ Über den neuen intellektuellen Poltergeist

Im kulturellen Leben der Bundesrepublik gehörte es seit den sechziger Jahren zur Tradition, regelmäßig nach „den Intellektuellen“ zu fragen: „Schweigen die Intellektuellen?“ rief es durch die Feuilletonspalten; wenn ja, warum? Wenn nein — wohin sind sie „verschwunden“? Postwendend beantworteten die Berufenen die bange Frage, und es stellte sich heraus, daß sie alle noch da waren, ihrer Arbeit nachgingen und im üblichen Umfang von sich reden machten. Der kritische Diskurs, dessen Fehlen immer wieder beklagt wurde, konnte, wenn auch von Jahr zu Jahr lustloser, seinen gewohnten Gang nehmen.

Seit dem Herbst 1989 ist alles anders: Während ein Teil die neue Lage kommunikativ beschweigt, meldet sich der andere freiwillig an die Meinungsfront und mahnt, warnt, appelliert und prophezeit, daß es eine Art hat: Durch sein „Hetzen und Petzen“ habe der „Weltschrat Biermann“ keinen „geistigen Stechschritt Vorsprung gewonnen“, mahnte der Zeitgeist-Django Roger Willemsen. Heinrich Hannover, ein renommierter Anwalt, kommt beim Vergleich der stalinistischen Schauprozesse mit der „rechtsstaatlichen Justiz“ zu dem Schluß, diese habe, „nur mit umgekehrten Vorzeichen, genauso einseitig judiziert“. Im übrigen sei das Strafrecht „in unserer Zeit schlicht abschaffungswürdig“ (taz 15.1.92). Mathias Greffrath, Chef der 'Wochenpost‘, hatte bereits im Fall Fink für die richtige historische Dimensionierung gesorgt, als er den Fall Dreyfus zum Vergleich bemühte. Jetzt — in der jüngsten Aspekte-Sendung — hüllt er Sascha Andersons Lügen in den Nebel moralischer Unübersichtlichkeit. Stefan Heym und Günter Grass schließlich, die Sprecher der Erbengemeinschaft aller geistig Getäuschten und Beleidigten, sind sich über das deutsche Volk völlig einig. Schon bald werde es wie früher rufen: „Ein Reich, ein Volk, ein Führer!“

Könnte es sein, daß dieses intellektuelle VoodooDada, daß das Toben und Poltern ebenso wie das verdrückte Näseln und zähe Schweigen schlicht vor dem Eingeständnis retten soll, nicht nur die politische sondern darüber hinaus auch die moralische Orientierung verloren zu haben? Oder warum sonst formulieren Köpfe, an Kant, Hegel, Adorno, Karl und Groucho Marx geschult, plötzlich Stammtischparolen im Dutzend billiger: Treuhand=Politbüro, Kritik=Hexenjagd, Aufklärung=Denunziantentum, Nachforschung =Inquisition?

Warum sind Theoretiker, die ganze Bibliotheken über den Fetischcharakter der Ware, die Simulacren der „Postmoderne“ und die Semiotik der Frittenbude verfaßt haben, seit den revolutionären Umwälzungen von 1989 in einen wahren Rausch unverfrorener Komplexitätsreduktion verfallen? Warum geben sie im Angesicht der realsozialistischen Implosion ihr ganzes Differenzierungsvermögen zugunsten einer plumpen Freund/Feind-Identifikation auf, die nicht einmal ihre eigene Position zutreffend beschreibt? Woher diese Dampfwalzenrhetorik?

Entscheid für die große Lüge

Wer die Welle der Stasi-Enthüllungen mit McCarthyismus, Intellektuellenhetze oder der Tätigkeit von Henkern und Blutrichtern vergleicht, hat sich für die große Lüge statt für die Aufklärung en détail entschieden. Doch hinter der herablassenden Gleichgültigkeit oder aggressiven Abwehr steckt mehr: eine diffuse postmortale Identifikation. Der schlechteste Sozialismus soll „irgendwie“ doch noch besser als der fortschrittlichste Kapitalismus gewesen sein; Jetzt ist er die letzte Ruhestätte einer unerlösten Utopiesehnsucht. Was die Liebhaber dieser speziellen Art von Nekrophilie nicht mehr positiv formulieren können, dient ihnen heute als Material hysterischer Ausbrüche gegen die Wahrheit, die häßliche Wahrheit.

So ist es kein Wunder, daß der verbreitete Anti-Biermann-Affekt heute der charakteristische Ausdruck einer militanten Ratlosigkeit ist, die im Käfig ihrer Selbsttäuschungen randaliert. Viele, die ehedem mit Zensur-, Repressions- und Faschismusvorwürfen gegen den „bürgerlichen Staat“ nicht sparten, fordern jetzt gesittete Umgangsformen und Gelassenheit gegenüber der verheerenden SED- und Stasi-Herrschaft, „ein bißchen mehr Friedenssinn“ (Walter Jens) eben.

Die Sache selbst jedoch gerät bei all jenen in den Hintergrund, denen immer noch die Frage, in wessen Gesellschaft sie ein Satz bringt, wichtiger ist als die Frage, ob er wahr ist. Deshalb wollte auch der Kabarettist Bruno Jonas beim modischen Biermann-bashing nicht abseits stehen und mokierte sich —wie alle Spießer— über die ebenso wütende wie präzise Artikulation tatsächlicher Verletzungen: der linksliberale Mainstream-Humorist kennt sein Publikum. Weil Philister ihren eigenen Opportunismus für das Maß aller Dinge halten, verbündet sich ihre untrügliche Selbsteinschätzung lieber mit den — moralisch — schwachen Tätern als den starken Opfern. Ein Grund mehr, warum Großmogule der medialen Betroffenheitskultur jetzt über wirkliche Betroffene witzeln, die freilich weder symbolische Holzkreuze schleppen noch weiße Bettlaken hissen, sondern in den Stasi-Akten nach zerrissenen Stücken ihrer geraubten Biographie suchen. Überzeugte Friedensfreunde schließlich, die sich ihr halbes Leben lang über die antikommunistische Fieberkurve in Gerhard Löwenthals ZDF-Magazin amüsierten, haben nicht einmal jetzt die Größe, die Mattscheibe im eigenen Kopf einzugestehen.

„Lieber mit Horst-Eberhard Richter irren als mit Wolf Biermann recht behalten“, ist das Motto vieler geistig-moralischer Nostalgiker des verflossenen Luxusjahrzehnts, die keine andere Wahrheit neben ihrer alten dulden wollen, schon gar nicht, wenn sie dem schlimmsten Feind Vorschub leisten: dem Bauchweh des ideologischen Selbstzweifels. Der Schmerz über den Verlust der „Utopie“ soll allemal größer sein, und wer die Erkenntnis, daß das utopische Denken des 20. Jahrhunderts an den schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte beteiligt war, nicht ertragen kann, muß eben andere Schuldige finden. Stefan Heyms Offenbarungseid, er könne nicht „sein ganzes Leben wegwerfen, bloß weil hier Leute schlecht und verbrecherisch gehandelt haben“, trifft —in seiner weißweingetränkten Variante— exakt die Überzeugung westdeutscher Metropolenintellektueller, stets nur das Beste gewollt zu haben. Solch dummes Geschwätz, das man Boris Becker — „Ich war heute mental nicht voll da“ — niemals durchgehen ließe, gilt inzwischen schon als intellektuell bewunderswerte Treue zur „richtigen Grundidee“.

Nachdem die gemütliche Hierarchie auf der nach unten offenen Verbrechensskala — 1.Faschismus, 2.US-Imperialismus, 3.McDonald's, 4.Helmut Kohls Rhetorik, 5.Stalinismus (bis 1953) — durcheinandergeraten ist, bleibt als letzter Fixpunkt der „konkreten Utopie“ der nackte Selbsterhaltungstrieb: die Warnung vor einer „Hexenjagd“ auf Intellektuelle. Ihr kann sich noch der drittklassige Theaterkritiker in seiner lange schon ergrauten „Dämmerung nach vorwärts“ (Bloch) unbesehen anschließen.

Im Herbst 1968 beschrieb Manès Sperber unter dem Titel Vom Mißgeschick deutscher Intellektueller in der Politik einen Abend in einem Frankfurter Weinlokal zur Buchmesse 1958. In fröhlicher Runde bezeichnete damals ein junger Mann Konrad Adenauer als „Faschisten“, fand sich später jedoch bereit, den Ausdruck durch „faschistoid“ abzumildern: „In der darauffolgenden Auseinandersetzung stempelten meine Tischgenossen beinahe jeden, der ihnen nicht paßte, als Faschisten ab. Hinweise auf Marx, auf sozialistische Parteien, auf die Sowjetunion, auf die Ereignisse in Polen und Ungarn 1956 schienen sie nicht besonders zu interessieren, jedoch erwiesen sie sich als ganz entschiedene Anti-Antikommunisten.“ Am Ende skizziert Sperber — in hellsichtiger Vorahnung des postmodernen VoodooDada 1992 — das Programm für die Intellektuellen des 20.Jahrhunderts: „Mut aufbringen, sich weder von Beifall auf der falschen Seite noch durch das Mißfallen der Freunde lenken oder ablenken zu lassen“ und einsehen, „daß ein Gran Wissen einem Zentner Überzeugung und einer Tonne Meinung vorzuziehen ist.“ Reinhard Mohr, Publizist, lebt in Frankfurt/Main.

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