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DEBATTESchüsse an der Trauer

■ Eine Polemik gegen Ralph Giordanos Essay „Die trauerunfähige Linke“

Links ist, wo der Daumen rechts ist. Und der zeigt nach unten. Rechts ist, wo der Daumen links ist, und der zeigt nach oben. Neue Cäsaren sitzen am Mischpult der Wendezeit und schreiben sich ihr In-ing und den je anderen das Outing.

Ralph Giordano hat ein Thema entdeckt, das manche von uns erst seit den Slansky-Prozessen, andere seit 1948, dem Prager Mord am Demokratieversuch, Ältere seit den 30er Jahren umtreibt. Ich war 16 und las Zeitungen, als in Prag Slansky hingerichtet wurde. Er hatte seinerseits die Demokratie zu Fall gebracht, drei Jahre zuvor, mit Hilfe der sowjetischen Truppen.

Nun — 1992! — konstatiert Ralph Giordano, beim Slansky-Prozeß 29 Jahre alt, die „Linke“ (whoever that may be) sei trauerunfähig. Zugleich klagt er sich jetzt an, damals Stalinist gewesen zu sein. So wird Selbstanklage zum Silberling.

Wir schreiben 1992, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Stalins Mordkommandos, fast 40 Jahre nach den Panzern im Berliner Juni, 36 nach den Hunderten junger Toten in und Zehntausenden Flüchtlingen aus Ungarn, 31 Jahre nach dem Bau des deutschen Menschenpferchs, fast ein Vierteljahrhundert nach den Toten von Prag, bald zwölf Jahre nach dem Überfall auf Afghanistan und bald 13 Jahre nach dem ersten Aufbegehren von Solidarność. Jetzt plötzlich — unfähig zu trauern?

Der ganze Schmäh ist falsch. Damals, 1945, mußte ein Tätervolk mit sich zurande kommen, das neben eigenen Mitbürgern vor allem andere Völker überfallen, gequält und vernichtet hatte. Im Abstand werden wir wohl noch einmal fragen, ob dies nicht doch — so recht wie schlecht — einigermaßen gelungen war.

„Die Linke?“ — Wer ist damit gemeint? In dem ganzen langen Essay wird für Linke aus dem Westen nur ein einziger Name genannt, der von Bernt Engelmann. Sonst bleibt der Leser ratlos. Sind mit der Kollektivbezeichnung die ehemaligen Bewohner der DDR gemeint, die sich nicht der Opposition, wohl aber der Massenorganisation angeschlossen hatten? Deren Trauer kennen wir nicht. Liegt es an uns, die einzuklagen? Meint Giordano die „Linke“ der Bundesrepublik? Meint er linke Journalisten, die die Ostpolitik und Helsinki gefordert und gefördert hatten? Meint er die Maoisten der 70er Jahre? Meint er die Sozialdemokraten oder die linken Freidemokraten oder die APO oder die 'Frankfurter Rundschau‘ oder die taz? Im Ton ein Richter, mäht er alle nieder. Diese Linke gibt es nicht, sie ist ein Produkt eines Jägers auf der Suche nach einem neuen allfälligen Feind.

Der fatale Trugschluß, den Giordano auf seine „Linke“ abfeuert, ist die Mißachtung des Pluralismus, in dem es linke wie rechte, konservative wie liberale, soziale wie antisoziale, bürgerliche wie kleinbürgerliche Demokraten gibt. Demokraten! Hier liegt der Fehler vieler, die ehedem einer totalitären Partei angehört hatten: Sie sehen oft die Demokratie und die Öffentlichkeit als Lagerordnung. Haben sie das eine verlassen, müssen sie an die Pforten eines anderen anklopfen. Daß ausgerechnet Giordano das tut, schmerzt. Sein Essay ist ein gefährlicher Beitrag zu dieser schwierigen Aufarbeitung der Vergangenheit: Erst wird „der Linken“ die Trauerunfähigkeit bescheinigt, dann wird zum Schluß eine kleine Gruppe der Tapferen aus der DDR ausgemacht, der er sich zuordnen möchte. Dabei geht es nicht um Demokraten mit Meinungen und Gegenmeinungen. Es geht um sein manichäisches Menschenbild, das Äonen entfernt ist von dem sorgfältigen Versuch der Mitscherlichs, herauszufinden, warum viele Deutsche nach 1945 nicht trauern konnten.

Giordano, um Gottes willen Giordano, jetzt — 1992 — Trauer einklagen nach Millionen von Opfern, in dieser zerschundenen Welt? Jetzt im Salto Fatale gleich vom wahrlich nicht selbst erschwommenen anderen Ufer den großen Urschrei „ik bin all dor“ auszurufen?

Als Günter Grass die Plebejer proben den Aufstand probte, da hat er damals dem Brecht doch nicht aus eitel Spaß Bescheid gesagt — soll jetzt etwa dem linken Grass die Trauer abgesprochen werden?

Die Terra incognita und der neuentdeckte Babarenstamm „die Linke“, die jetzt Giordano und andere für uns aufspüren, sind es allenfalls für sie selbst: Der erste literarische Aufschrei gegen die Mauer kam von links, nicht von rechts, er kam von linken Demokraten. Diese Trauer war kein Gespinst unterschiedlicher theoretischer marxistischer Gesellschaftsanalysen, es war der Trauerschrei der Demokratie, den Hans Werner Richter bereits im Dezember 1961 bündelte mit seiner Sammlung Die Mauer, oder der 13. August. Der Sozialdemokrat Willy Brandt war voll Trauer zu den bewaffneten Mauermaurern gegangen, der rechte Adenauer blieb in Bonn. Ehren wir die Trauerfähigkeit der Grass und Brandt, Walser und Böll— und weniger von Ex-Kommunisten, deren Weimarer Erbe (mit Tuchos Hilfe) bis heute noch die Feindseligkeit gegen Sozialdemokraten geblieben ist.

Damals schrieb sich der linke Jens Daniel (Rudolf Augstein) im 'Spiegel‘ seine Trauer und seine Wut von der Seele: „Theoretisch gibt es die Möglichkeit, daß die westlichen Verbündeten lieber einen Weltkrieg auslösen als die DDR anerkennen. Praktisch, darüber kann gar nicht genug Klarheit herrschen, besteht die Möglichkeit nicht“ (geschrieben 31 Tage vor dem Mauerbau). Die 23 deutschen Schriftsteller, die 1961 einen verzweifelten Brief an den Präsidenten der UNO-Vollversammlung schrieben, waren im Zweifel linke Autoren.

Oder die Trauer, die aus den Zeilen Alfred Kantorowicz klagt in seinem Brief vom August an Günter Grass, der den Intellektuellen in der DDR mehr Protest gegen die Unterdrücker abverlangt hatte: „Im Ulbricht-Staat kann man sich ebensowenig wie im Hitler-Staat auf den Marktplatz stellen und Mord rufen, ohne zugleich von der Dampfwalze überrollt zu werden. Was 1956 äußerstenfalls bei Gefahr langjähriger Zuchthausstrafen noch möglich war, ist seither unmöglich (oder nur möglich mit Willen und Bewußtsein in den Opfertod zu gehen).“

War Kantorowicz ein Linker? Und waren die Leute der Gruppe 47, die Kurt Hager am 1. Oktober 1961 unerhört niederträchtig schmähte, keine Linken? Das war doch niemandes Spaß — dieser betonierte Modus vivendi, der danach kam!

Bitter schrieb Heinrich Böll nach dem Bau der Mauer: „Ich habe nicht einmal den Mut, den Schriftstellern in der Zone Selbstmord anzuraten. Ich weiß, welche Folgen Aufstände in Gefängnissen haben. Es ist kriminell, große Worte auszusprechen, wenn man sie nicht halten kann; falsche Phrasen erhöhen den Brechreiz, vergrößern das Elend... Eine Zeitlang war es möglich, aus der CSSR zu fliehen, indem man sich in den Wassertank einschrauben ließ. Seitdem die westliche Presse aus dieser Methode eine Sensationsmeldung gemacht hat, werden an den Grenzen alle Wassertanks aufgeschraubt.“

Die Trauer der linken Demokraten hat nicht erst 1961 angefangen. Sie wurde um so verzweifelter, je mehr die Eingesperrten in Ostdeutschland rechten Innenpolitikern in Westdeutschland als Instrumente der Propaganda dienen mußten, ohne sich wehren zu können.

Jugendirrtümer, auch todesgefährliche, begehen viele — aber darf der eigene Irrtum als Lackmus- Waffe gegen alle anderen mißbraucht werden?

Ost- und Entspannungspolitik war immer zugleich eine Tragödie, war immer zugleich auch ein Eingeständnis, daß niemand in der Welt bereit war, Waffen gegen die Wärter mit den Atomraketen einzusetzen. Willy Brandt und Günter Grass, Marion Dönhoff und Peter Bender, Hans- Dietrich Genscher und Paul Sethe — keiner von ihnen war je ein Kommunist, keiner von ihnen hat je an Stalin geglaubt.

Meine Mutter hatte eine Cousine, die in der Sperrzone am Dassower See lebte — früher ein Lübecker Ausflugsort. Ein einziges Mal nach dem Tod einer Verwandten durfte sie Hamburg besuchen. Ich erinnere die weinende Frau, als sie Mitte der 60er Jahre von der Staatssicherheit erzählte, die sich in ihrem eigenen Haus einquartiert hatte und sie schikanierte. Ich erinnere das Schluchzen dieser alten Frau. Keine Heldin, keine Faschistin, eine Mecklenburger Bürgerin aus der Grenzzone. Wir haben uns für die Entspannungspolitik vor allem dieser Menschen wegen eingesetzt. Nein, es muß Schluß sein mit der Irrhoffnung, ein kleines Fähnlein der Gerechten, einige von ihnen vor langer Zeit selbst Kommunisten, könnten durch neue Klageschriften Trauerarbeit als Ersatzvornahme für andere leisten.

Mich haben die DeKaPisten in unserem Schriftstellerverband bis zur Weißglut empört. Mich hat Engelmann geärgert. Wer aber jetzt neue Zäune für intellektuelle Lager aufziehen möchte, tut nichts für die Demokratie der vielen Meinungen, sondern wirkt mit am Rückfall in die Feindbildwelt von gestern.

Linke Intellektuelle haben Trauerarbeit geleistet. Den Stamm der „Linken“ gibt es nur wie im Kartenspiel als Joker, jederzeit einsetzbar, aber ohne Gestalt.

Wir wissen nicht, was aus der Demokratie wird. Die Zeiten stimmen nicht nur fröhlich. Die Zahl der Demokraten scheint in Westeuropa schneller abzunehmen, als sie in Osteuropa zunimmt. Le Pen in Frankreich ist kein Spaß mehr. Die Bundesrepublik hat eine große Chance. Ich befürchte, daß die Intellektuellen mit solchem Schattenspiel wenig dazu beitragen werden. Freimut Duwe

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