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DEBATTEEntsorgung der sozialen Frage

■ Beim Streik im öffentlichen Dienst geht es um mehr als nur Prozente

Es wäre einem wohler, wenn die Gewerkschaften mit einer sympathischeren Forderung in einen der größten und schwierigsten Arbeitskämpfe gingen als mit schlichten Prozenten. 5,4 Prozent im öffentlichen Dienst— ursprünglich 9,5 Prozent— und 9,5 Prozent in der Metallindustrie— die, die wenig haben, kriegen wenig dazu, die, die viel haben, kriegen viel dazu. Bei einem Bruttomonatsverdienst von 2.000 DM machen 5,4 Prozent nun einmal nur gut 100 DM aus, bei einem Bruttomonatsverdienst von 6.000 DM das Dreifache, also 300 DM.

Wie viel sympathischer und der Lage in Ostdeutschland auch angemessener wäre beispielsweise die Forderung nach einem einheitlichen Betrag für alle gewesen, der in den unteren Tarifgruppen wenigstens die Preissteigerungsrate ausgleicht, den Rest des „Verteilungsspielraums“ hätte man für qualitative Forderungen verwenden können, die Arbeitsplätze schaffen und Arbeitsbedingungen humanisieren. Freizeitausgleich für Schicht- und Nachtarbeit zum Beispiel oder bezahlte Freistellung von Männern und Frauen für die „Wechselfälle des Lebens“ wie beispielsweise kranke Kinder oder auch eine „Beziehungskrise“. Oder wenn gar allgemeine Arbeitszeitverkürzungen auf dem Programm stünden, damit die Beschäftigten im Westen die Arbeitsplatzkonkurrenz aus dem Osten nicht so fürchten müssen und damit im Osten die knappen Arbeitsplätze unter mehr Menschen aufgeteilt würden; statt daß die einen schuften wie die Berserker und die anderen einfach ausrangiert werden. Auch über die Einrichtung von Tariffonds hätte man vielleicht verhandeln können und sollen, mit denen die Gewerkschaften struktur- und/ oder sozialpolitisch eigene Initiativen hätten ergreifen und finanzieren können.

All das steht nicht auf dem Programm, sondern eben „nur“ Prozente. Und trotzdem geht es jetzt darum, die Gewerkschaften zu unterstützen — wo immer und wie immer man es kann. Denn dieser Arbeitskampf ist mehr als das übliche Tarifritual — und zwar nicht nur, weil seit langen Jahren wieder einmal gestreikt wird. Dieser Streik ist längst nicht mehr nur ein begrenzter Tarifkonflikt. Es geht um das Drehbuch der deutschen Vereinigung, um die Logik des Managements der sich im Osten immer noch weiter zuspitzenden Krise, die demnächst vielleicht auf den Westen übergreift. Auch wenn solche Formulierungen im postmodernen Zeitalter antiquiert anmuten — das in den Machtzentralen von Politik und Wirtschaft zur Zeit praktizierte Krisenmanagement folgt der Parole: Man muß die Kleinen schröpfen, wenn die Großen Mist gebaut haben. Gemessen an den Polit- und Wirtschaftsmagnaten sind auch die meisten derer, die von Prozentforderungen überdurchschnittlich profitieren, kleine Fische.

Die ganze deutsche Einheit war und ist auf Sand gebaut. Auf der Illusion im Osten, man müsse nur dem Westen beitreten, dann regnete es Goldtaler; auf der Illusion im Westen, mit dem Zusammenbruch des „gegnerischen Systems“ hätten sich die eigenen Gegenwartsprobleme und Zukunftsrisiken erledigt. Die herrschende politische Klasse hat das ökonomische System, in dem sie agiert, nicht recht verstanden. Klügere Menschen, die leider (und deswegen) nicht an der Macht sind, haben jedoch gewußt und gesagt, wohin der Einheitstaumel, der blinde Glauben an die DM und die Selbstheilungskräfte des Marktes führen. Es ist blanke Heuchelei oder aber Manifestation einer schier unglaublichen Ignoranz, wenn die Herren Kohl & Co. behaupten, das hätten sie nicht gewußt, das hätte man nicht wissen können. Die westdeutschen Unternehmen haben sich an der deutschen Einheit eine goldene Nase verdient; aber man unterschätze auch bei den cleveren Managern nicht den zwar interessegeleiteten, aber dennoch irrationalen Wunderglauben an die Marktwirtschaft.

Aber nun wird's eng. Zunächst bei den Staatsfinanzen und in der Folge dann vielleicht demnächst auch in den Unternehmerkassen. Und wenn wir denn nun schon schwierigen Zeiten entgegengehen, dann sollte man die wenigstens nutzen, um endlich einiges durchzusetzen, womit man schon seit langem liebäugelt: Karenztage bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, „Öffnungsklauseln“ in den Tarifverträgen, Ausweitung der Betriebsnutzungszeiten, „Deregulierung“ der Verwertungsbedingungen der menschlichen Arbeitskraft, ABM- Verträge unter Tarif und vielleicht auch die Rücknahme bereits fest vereinbarter Arbeitszeitverkürzungen. Die 35-Stunden-Woche war der amtierenden Bundesregierung und den Arbeitgebern schließlich schon immer ein Dorn im Auge.

Bei diesem Projekt der Entsorgung der sozialen Frage kann man starke Gewerkschaften nicht gebrauchen. Die Zeichen stehen günstig, den Gewerkschaften eine empfindliche Niederlage beizubringen. Deswegen treibt die Bundesregierung die ÖTV wegen 0,4 Prozentpunkten in den Arbeitskampf (daß sie sich auf die Rückendeckung der meisten sozialdemokratischen Landes- und Kommunalpolitiker berufen kann, widerlegt das Argument nicht), deswegen provozieren die Metallarbeitgeber die IG Metall mit einem „Angebot“ von 3,3 Prozent.

Auch wenn die Gewerkschaften vielleicht nicht ganz schuldlos sind an der vertrackten Lage, in die sie hineingeraten sind, es gilt jetzt ihre Niederlage zu verhindern, weil sie zur Zeit in dieser vereinigten Republik die einzige politische Kraft sind, die die Herrschenden in einen Pakt der sozialen Vernunft zwingen kann.

Und wenn dann die Entsorgung der sozialen Frage abgewehrt ist, wenn die Gewerkschaften gestärkt aus diesem Arbeitskampf herauskommen, dann— und nur dann— können und müssen wir mit ihnen über ihre soziale Verantwortung reden. Dann geht es für die nächsten Tarifauseinandersetzungen um die Frage der Struktur der Forderungen— nicht um deren Niveau. Denn den Unternehmen das von den Beschäftigten erwirtschaftete Geld einfach zu lassen bringt niemandem (außer den Unternehmern) etwas, nicht den Arbeitslosen in Ost und West, nicht den Menschen in den unteren Tarifgruppen und in den ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen, nicht den Frauen, die massenhaft an Heim und Herd zurückgedrängt werden. Gerade für diese „Opfer“ der Marktwirtschaft und der deutschen Einheit sind die Gewerkschaften nicht die „geborene Interessenvertretung“. Aber wenn einer sich ihrer Belange annehmen soll, wer, wenn nicht die Gewerkschaften? Ingrid Kurz-Scherf

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