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DEBATTEBlick zurück in Nostalgie

■ In Polen und dem Baltikum wird die Zwischenkriegszeit mystifiziert

Am 12. Mai 1926 war es soweit. Die ersten Einheiten der polnischen Armee, die sich entschlossen hatten, Marschall Jozef Pilsudski zu folgen, überquerten die Warschauer Poniatowski- Brücke in Richtung Innenstadt, um die wichtigsten Regierungsgebäude zu besetzen. Der Marsch auf Warschau hatte begonnen. Kurz darauf sollte ihn die »Sozialistische Partei«, der Pilsudski früher angehört hatte, durch Streikblockaden unterstützen, mit denen sie verhinderte, daß regierungstreue Truppen in Richtung Warschau in Marsch gesetzt werden konnten. Bald nach dem gelungenen Putsch sollte sich Pilsudski von den Sozialisten abwenden und Bündnispartner als „überparteiischer Führer“ bei Großgrundbesitzern und Konservativen suchen und eine eigene „Präsidentschaftspartei“, den »Überparteiischen Block der Zusammenarbeit mit der Regierung« (polnisch abgekürzt BBWR) gründen.

Pilsudski kam einem ähnlichen Putsch in Litauen nur wenige Monate zuvor: Dort zwang Major Plechavicius mit Teilen der Armee den legalen litauischen Präsidenten Grinius und Premier Slezevicius zum Rücktritt. Die Macht übernahm Antanas Smetona. In Lettland dagegen kam erst 1933 ein autoritäres Regime an die Macht. Die Zwischenkriegszeit war in fast ganz Europa eine Zeit innenpolitischer Kämpfe, die zumeist in Putschen und Putschversuchen und schließlich in der Machtergreifung autoritärer Regime gipfelten. Nicht nur in Polen und im Baltikum wurden damals die Bürgerrechte eingeschränkt, Oppositionelle verfolgt und Zensurgesetze eingeführt. Parallelen gibt es selbst bis nach Ungarn und Rumänien.

Nicht totalitär, nicht demokratisch

Es war die Zeit der nationalistischen Bewegungen, in der versucht wurde, die aus dem Unabhängigkeitskampf zerstritten hervorgegangenen Gesellschaften gegen äußere Feinde, ethnische Minderheiten und angebliche oder tatsächliche kommunistische Umtriebe zu einen. „Gemeinsam war allen drei baltischen Staaten, daß die Neugestaltung nicht von neu aufsteigenden Demagogen, sondern von den Staatsgründern von 1918 ausging“, schrieb der Historiker Georg von Rauch im Rückblick. „Sie stützten ihre Herrschaft auf die Armee und auf paramilitärische Verbände.“ Totalitär war die neue Herrschaft nicht, meist blieben die Parlamente bestehen, und man regierte an der Opposition vorbei. In Polen, wo Marschall Pilsudski — auch einer der Staatsgründer von 1918 — 1926 putschte, kam die Führung der Opposition, ehemalige sozialistische Bundesgenossen eingeschlossen, erst 1930 hinter Gitter.

All diesen Ländern gemeinsam ist auch, daß ihre Zwischenkriegsgeschichte nach der Machtübernahme der Kommunisten beziehungsweise dem Anschluß des Baltikums an die UdSSR in Bausch und Bogen verdammt wurde. Ebenso gemeinsam ist ihnen, daß sie in der Emigration und im Untergrund idealisiert wurde. Polnische Emigrationshistoriker rechtfertigten Pilsudskis Putsch und die Verfolgung der Opposition als Notwendigkeit, litauische Publizisten und Politiker rechtfertigen selbst Zwischenkriegsorganisationen, die während des Zweiten Weltkrieges an Kriegsverbrechen der deutschen Besatzung beteiligt waren.

Langsam erwacht die Zwischenkriegszeit nun wieder — so, als hätten die fünfzig Jahre seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nie stattgefunden. Fünfzig Jahre realer Sozalismus mögen ihre Spuren im Bewußtsein des einzelnen hinterlassen haben, an der politischen Entwicklung scheinen sie spurlos vorübergegangen zu sein. Es ist, als hätten sich fünfzig Jahre lang tatsächlich nur Kommunisten am öffentlichen Leben beteiligt, als wäre der Rest der Bevölkerung in einer Art Winterschlaf versunken, aus dem er nun erwacht und versucht, da weiterzumachen, wo er 1939/40 aufgehört hat. Kehrt die Zwischenkriegszeit zurück?

Nahtloses Anknüpfen an die Zeit vor 50 Jahren

In Polen vollzieht sich die Parteiengründung nicht entlang gesellschaftlicher Interessen. Exkommunisten vertreten die neue Mittelklasse, die ihre Parteibücher gegen Aktienzertifikate eingetauscht hat, ebenso wie die Arbeiter der großen Industriereviere, die gegen die neue Bereicherung auf die Barrikaden gehen. Wenn sich die Parteien nicht um einzelne Streitpunkte herum gruppieren, beziehen sie sich auf die Bewegungen der Zwischenkriegszeit. Walesa läßt sich mit Pilsudski vergleichen, betreibt insgeheim die Gründung einer Art „BBWR“ und setzt sich wie Pilsudski von den einstigen Kampfgenossen ab. Litauens Parlamentspräsident Landsbergis bestreitet seine Auftritte mit Vorliebe in Gesellschaft seines Vaters, der vor dem Krieg in der Führung eines prodeutschen Nationalistenverbandes saß.

Das Anknüpfen an die Zeit vor fünfzig Jahren ist verständlich: Viele jener Institutionen, die in den letzten Jahrzehnten pervertiert oder abgeschafft wurden, funktionierten damals. Die propagandistische Verdammung der „bürgerlichen Herrschaft“ von damals wird nun abreagiert: Was die Kommunisten verdammten, muß doch gut gewesen sein. Aber auch die Argumente von damals kehren zurück: Das Parlament ist zerstritten, die Zahl der Parteien ist zu groß, die Korruption nimmt zu. Schon in den zwanziger Jahren wurde damit der Ruf nach dem starken Mann gerechtfertigt. Auch heute scheint die Rechnung wieder aufzugehen: Lech Walesa möchte mit Dekreten unter Umgehung des Parlaments regieren, Vitautas Landsbergis will eine Präsidialverfassung. Doch es sind die falschen Parallelen, die gezogen werden. Die autoritären Regierungen der Zwischenkriegszeit haben Konfliktlösungen nicht erleichtert, im Gegenteil: Sie haben sie blutiger gemacht.

Polen lieferte sich in den dreißiger Jahren bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit weißrussischen und ukrainischen Minderheiten, hinzu kamen Straßenkämpfe gegen demonstrierende Arbeiter, die mit Militäreinsätzen niedergeschlagen wurden. Litauen erklärte seine polnische Minderheit zu Bürgern zweiter Klasse und führte mit Polen einen mehr oder weniger diplomatischen Kleinkrieg um Wilna. In Lettland und Estland bekämpften sich Nationalisten und deutsche Minderheiten.

Eine andere Parallele, die in Osteuropa allerdings nur selten gezogen wird, macht deutlich, daß jene Erscheinungen, die als Strukturschwäche der Demokratie angesehen werden, in Wahrheit vorübergehende Anpassungsschwierigkeiten sind. Wie heute, so standen die politischen Eliten auch nach 1918 vor einem Niemandsland: Nach langer Zeit hatten sie endlich die Unabhängigkeit erreicht, doch vor ihnen lag eine desorganisierte, atomisierte Gesellschaft. Parteienzersplitterung war die Folge. Bevor die junge Demokratie eine Chance bekam, war sie meist schon abgeschafft. Einzige Ausnahme: die Tschechoslowakei, die ihrer Demokratie eine Chance gab und so zum Zufluchtsort für Verfolgte und Vertriebene wurde, als ihre Nachbarn schon längst diktatorisch regiert wurden.

Geschichte wiederholt sich nicht einfach

Die Gefahr, daß die Zwischenkriegsnostalgie umschlägt in „halb- oder undemokratische Lösungen“, ist dennoch nicht allzu groß, denn die Träume vom starken Mann sind einstweilen nur in den Köpfen. Pilsudski, Smetona, Ulmanis und der estnische Staatschef Päts, der verfassungsgemäß an die Macht kam, wußten Militär und Polizei hinter sich. Deren kann sich weder in Polen noch im Baltikum heute ein Staatschef so sicher sein, als daß er einen Putsch riskieren könnte. Längerfristig muß es hingegen nachdenklich machen, wenn Liberale darüber nachdenken, ob die Demokratie nicht vielleicht nur Mittel zum Zweck der freien Marktwirtschaft ist, wenn die Zwischenkriegszeit trotz ihrer undemokratischen und unsozialen Schattenseiten idealisiert wird und die Männer an der Macht immer noch mehr Macht fordern. Die Machtverhältnisse in Militär und Polizei können sich ändern — dann erst wird entscheidend sein, was in den Köpfen vorgeht. Klaus Bachmann, Warschau

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