DEBATTE: Addio bella Italia
■ Die Ignoranz der EG-Partner begünstigt in Italien eine autoritäre Wende
Nach dem hauchdünnen Ja Frankreichs zu den Maastrichter Verträgen verbreitet sich nun allenthalben das Gefühl des „Wir-sind-noch-einmal-davongekommen“. Doch das nun drohende Weiterwurschten im alten Trott birgt eine fatale, überaus gefährliche Konsequenz in sich: den weiteren Zerfall des EG-Gründungsmitgliedes Italien, die weitere Korrosion seiner politischen Einheit, seines sozialen Konsenses und seiner kulturellen Entwicklung.
Ein Zerfall, der absehbar eine autoritäre Wende hervorrufen wird — in Form eines „kalten Staatsstreichs“ mit einem Ermächtigungsgesetz, wie es die Regierung Amato bereits anstrebt, oder in Form eines regelrechten Putsches, wozu Carabinieri- Armee und Dunkelmännerzirkel seit Monaten immer unverhüllter Pläne schmieden.
Daß gerade den Regenten in Italien nach dem französischen Votum ein besonders schwerer Stein vom Herzen gefallen ist, kann nicht verwundern: Die Regierung mutet den Untertanen derzeit nicht nur die härtesten, sondern auch die unverschämtesten Schnitte ins soziale und kulturelle Netz zu, die es seit den Soldatenkaisern im 3. Jahrhundert nach Christus gab — und das alles im Hinblick auf den angeblich nur so möglichen Zutritt zu Europa: die Totalliquidierung des sowieso nur noch rudimentären „Gesundheitswesens“ ebenso wie die Annullierung nahezu sämtlicher Maßnahmen zum Erhalt kulturell und historisch wichtiger Dokumente, Monumente und Einrichtungen, die Aussetzung von Renten- und Lohnerhöhungen ebenso wie die schematische Besteuerung nicht mehr nach dem Realeinkommen, sondern nach einem abstrakten „Einkommensmesser“, der sich an der Zahl der benutzten Zimmer, der Autokubikzentimeter, dem Pony fürs Kind, dem Schlauchboot und dem Zweittelefon orientiert. Hätte Frankreich mit Nein gestimmt, wäre wohl in Italien ein Sturm der Entrüstung losgebrochen: wofür das eigentlich alles? Die Regierung wäre hinweggefegt worden — und wahrscheinlich wäre genau dies das kleinere Übel gewesen: Die vielleicht in diesem Jahrhundert letzte Chance, den längst überfälligen Wechsel der Regentenkaste so schnell durchzuführen, daß für Machtergreifungen der immer noch Mächtigen oder ihrer Statthalter keine Zeit bliebe.
Doch mit „Maastricht“ und dem französischen „Jein“ können Italiens Mißregenten fröhlich weitermachen: Die Panikologen vom Schlage des Sozialistenführers Bettino Craxi, die das Heil nur im „starken“ Staat Marke de Gaulle sehen; die „Sfaschisten“ (von „sfascere“, Zertrümmern) nach Art des „Lega-Nord“- Chefs Umberto Bossi, die den Zentralstaat zugunsten einer losen Dreiergruppe (Nord-, Mittel- und Südrepublik) auflösen und sich damit des hintangebliebenen Südens entledigen wollen; und ebenso die nach der Romanfigur Tommaso di Lampedusas „Leoparden“-Fraktion genannten Altvorderen der Christdemokraten, die das Motto „Damit alles so bleibt, wie es ist, müssen wir alles verändern“ bis zum Gehtnichtmehr anwenden wollen.
Daß Italiens Regenten — allesamt, nicht nur die Gerontokraten vom Schlag eines Giulio Andreotti — abgewirtschaftet haben, unterliegt keinem Zweifel; daß diejenigen, die an den Schalthebeln der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und der Interessensverbände sitzen, bis ins tiefste Mark hinein verfault sind, ebenfalls nicht. Und daß in diesem Staat mehr Korruption denn Redlichkeit, in der Politik mehr Hinterhältigkeit denn Verantwortungsbewußtsein herrscht, ist ein Gemeinplatz.
Doch in einem gemeinsamen Haus sind auch die anderen Länder mit ihrer Politik mitverantwortlich für das, was bei den Mitbewohnern geschieht. Während sich die Deutschen und die Franzosen das Ihrige mit starker Wirtschaftskraft holten, während England beim späteren Eintritt geradezu unglaubliche Sonderrechte ertrotzte, galt Italien gegenüber stets nur ein Prinzip: Man befriedigte den Geld- und Repräsentanzhunger der Regenten — und kümmerte sich einen Dreck um das Volk. Deutschlands und Frankreichs Bauern sind bis heute massiv geschützt — in Italien sind seit der EG- Gründung mehr als 85 Prozent des Agronomenstandes verschwunden. Maschinen und sogar Autos aus Italien wurden durch EG-Auflagen oftmals konkurrenzunfähig gehalten, der Mittelstand durfte allenfalls noch als Schuh- oder Kleiderlieferant auf den Markt.
Hilfe vom Ausland tut not, doch nicht für, sondern gegen die politische Klasse
Doch all das löste in Italien keine Revolution gegen Europa aus: Die große „Leistung“ der einander abwechselnden 35 Regierungen seit EG-Gründung bestand nämlich darin, den Italienern die EG zu „verkaufen“: mit der Vertröstung auf den nächsten Schritt in Richtung Europa werde nun wirklich alles besser; daß bis jetzt nichts für den Normalitaliener herausgesprungen ist, sei eben nur der noch nicht vollendeten Integration zuzuschreiben.
Rest-Europa hat sich daran gewöhnt, daß das so bleibt. Als Kompensation für ihre Vernebelungs- und Entschuldigungsarbeit ebenso wie für die Bereitstellung von Militärbasen während des Kalten Krieges und der Überfälle auf arabische Staaten durften Italiens Ministerpräsidenten und Notenbankgouverneure bei Gipfeltreffen der wichtigsten Industriestaaten mit dabei sitzen und damit auch das in Italien ausgeprägte Repräsentationsbedürfnis befriedigen. Das war aber auch schon alles.
Doch mit alledem ist es nun vorbei — mit dem Kalten Krieg und der strategischen Bedeutung ebenso wie mit der Geduld der Italiener. Sie erleben gerade mit keineswegs nur klammheimlicher Freude, wie ein paar entfesselte Untersuchungrichter das halbe politische und ökonomische Establishment wegen Dauerkorruption mit Handschellen versehen. Protzige Gipfeltreffen beeindrucken niemanden mehr. Die Parteien haben als Mittler zwischen Volk und Herrschern ausgespielt, der Ruf nach neuen Leuten, neuen Ideen und nach einer neuen Art von Demokratie ohne Klientelwesen und ohne Schmiergeldkultur, ohne Kungelei mit düsteren Geheimlogenbrüdern und präpotenten Wirtschaftsmanagern wird immer lauter.
Doch dieser Ruf hat eben den Nachteil, daß er vor allem von jenen gehört wird, die man eben nicht mehr als „Retter“ möchte, die aber Weltmeister im Kreidefressen und im hurtigen Aufspringen auf neue Bewegungen sind.
So tut nun Unterstützung von den europäischen Partnern not. Doch alles, was derzeit an Druck von außen kommt, läuft genau auf jenem Gebiet ab, das den kontraproduktivsten Effekt haben wird, nämlich der Finanz- und Steuerpolitik. Den Eurokraten und den Politikern der EG-Partner fällt offenbar nichts anderes ein, als den Italienern Haushaltssanierung und Abwertung der Lira zu verordnen: Maßnahmen, die nicht nur keinerlei Produktivitätserhöhung zeitigen, sondern über den Steuerdruck Armut und Verzweiflung weiter schüren werden. Die autoritäre Wende wird so immer greifbarer: Sie kündigt sich — wie Italiens bekanntester Leitartikler Giorgio Bocca anmerkt — „in solchen Situationen fast zwangsweise an“.
Die Folgen für Europa wären unübersehbar: die EG — jenes Gebilde, das erstmals seit der Antike einen Supranationalismus aufzubauen versucht hat, der auf einander eng verwandten politischen Systemen beruht — hätte dann ein Mitglied, das zu diktatorischen Mitteln greift. Angesichts der zunehmenden Extremismen auch in anderen Ländern ein mögliches Fanal, das grauenhafte Folgen zeitigen könnte.
Was Italien mithin nottut, ist mächtige Hilfe vom Ausland — nicht für, sondern gegen die politische Klasse. Ein harter Druck, der den mit Zähnen und Klauen an der Macht hängenden derzeitigen Regenten weder Ausreden für ihr Versagen noch Anlässe für neue hemmende Steuern liefern darf. Ein Druck, der eben jenen heute bereits brüchigen „Palazzo“, das alte Machtkartell, zum Einsturz bringt und neuen Kräften die Chance gibt, sich den Wählern zu empfehlen und das Land zu reorganisieren. Die Haushaltskonsolidierung ist, auch wenn's nicht in deutsche oder Brüsseler Gehirne will, erst eine nachgeordnete Angelegenheit, soll Italien nicht doch vor die Hunde gehen. Werner Raith, Rom
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