: DDR: Schlange stehen für die Ausreise
■ Hunderte belagerten seelsorgerisches Kirchenbüro / Krawczyk kritisiert Evangelische Kirche / Gerüchte um Haftentlassung von Vera Wollenberger / Krawczyk äußerte sich kritisch über die Rolle der Kirche
Berlin (epd/taz) – Hunderte von Ausreisewilligen versammelten sich gestern früh vor der Generalsuperintendentur im Ost- Berliner Stadtbezirk Lichtenberg. Die Kirchenleitung hatte in der vergangenen Woche angekündigt, daß sie ab Montag nach telephonischer Anmeldung DDR- Bürgern, die einen Ausreiseantrag gestellt und noch keine Antwort erhalten bekommen haben, Beratung und seelsorgerische Begleitung anbieten wolle.
Konsistorialpräsident Stolpe meinte dazu, daß eine dpa-Meldung Verwirrung gestiftet habe. Jetzt werde von den Menschen eine Art Ausreisebüro erwartet, wo es nur um Vermittlung von Seelsorge ginge. Das ebenfalls bei der Kirchenleitung in Lichtenberg angesiedelte Kontaktbüro, das der Koordinierung von unabhängigen Gruppen mit der Kirchenleitung nach den Verhaftungen Oppositioneller infolge der Demonstration am 17. Januar dienen sollte, wird wahrscheinlich aufgelöst. Das erklärten Mitarbeiter auf Anfrage. Sie sähen sich dem telephonischen Ansturm der Ausreisewilligen nicht mehr gewachsen. Fürbittgottesdienste sollen in näch ster Zeit vermutlich nur in Form gemeindlicher Andachten stattfinden. Der inzwischen nach West-Berlin übergesiedelte Liedermachter Stephan Krawczyk äußerte sich am Sonntag abend in einem Rundfunkgespräch kritisch über die Rolle der Evangelischen Kirche. Sie habe nach den Ereignissen um die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration „dem staatlichen Interesse nach Ruhe und Ordnung Rechnung getragen“, sagte er. Ohne Bestätigung blieb bis Redaktionsschluß die Ankündigung aus Kirchenkreisen, wonach die Haftentlassung von Vera Wollenberger in die DDR noch am Montag nachmittag bevorstünde. Die DDR-Behörden hatten bereits am Wochenende zwei weitere wegen versuchter „Zusammenrottung“ zu sechsmonatiger Haft Verurteilte nicht in die Bundesrepublik abgeschoben, sondern auf Bewährung nach Ost- Berlin entlassen. Inzwischen hat die Koordinierungsgruppe der Berliner Basisgruppen und kirchlicher Mitarbeiter Frau Wollenbergers Freilassung in die DDR gefordert und den Mißbrauch der Fürbittandachten für Inhaftierte durch Ausreisewillige beklagt.
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