: DDR-Anwälte fordern Rechtsreform
■ In einer Erklärung sprechen sich die Anwälte für die Einführung einer Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Revision des politischen Strafrechts und ein neues Wahlrecht aus
Berlin (adn/dpa/taz) - Für eine grundlegende Rechtsreform haben sich die Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR ausgesprochen. In einer Erklärung vom 25.Oktober entwickeln sie Veränderungsvorschläge unter anderem für das Wahlgesetz, die Kontrolle der Verfassungskonformität von Rechtsvorschriften, das politische Strafrecht und die Strafprozeßordnung.
In der Erklärung wird eingangs festgestellt, daß die Lage in der DDR als sehr ernst einzuschätzen sei. Zwar habe es so die Erklärung - beim Ausbau der Rechtsordnung der DDR beachtliche Erfolge gegeben; es sei jedoch zugelassen worden, daß mit Begriffen wie „sozialistische Demokratie“ oder „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ vielfach selbstzufrieden umgegangen worden sei. Zukünftig müsse erreicht werden, daß der Begrif „sozialistisch“ nicht länger als Einschränkung, sondern als Erweiterung verstanden werde. Die Bürgerrechte seien in ihrer bisherigen Form nicht unabdingbar genug gefasst. In den diesbezüglichen Rechtsvorschriften gäbe es zu oft Einschränkungen. Zudem stellt die Erklärung Verletzungen der Unabhängigkeit der Richter in der bisherigen Rechtspraxis fest. In der Vergangenheit hätten sich „Personen in Funktionen“ in die Rechtsprechung eingemischt, was als Hinweis auf politische Einflußnahme zu verstehen ist.
Die Rechtsanwälte greifen die oppositionelle Forderung nach einer Wahlrechtsänderung auf und fordern alternative Kandidaten und garantierte öffentliche Kontrolle der Stimmauszählung. Letzteres ist zwar auch im bisherigen Wahlgesetz vorgesehen, doch war es noch bei den Kommunalwahlen vergangenen im Mai zur Behinderung der öffentlichen Kontrolle und massiven Wahlfälschungen gekommen.
Eine Neuerung wäre auch die von den Anwälten angestrebte Kontrolle der Rechtsvorschriften und anderer verbindlicher staatlicher Entscheidungen auf ihre Verfassungstreue. „Nach unserer Auffassung“ - so heißt es in der Erklärung - „sollte ein Organ geschaffen werden, an das sich auch Bürger wenden können, um entsprechende Überprüfungen zu verlangen.“ Ein Verfassungsgericht gibt es bislang in der DDR nicht.
Bei der Strafrechtsreform fordern die Rechtsanwälte eine klare Unterscheidung zwischen Verbotenem und Erlaubtem. Zudem solle sich das Strafrecht auf „wirklich kriminelles Verhalten konzentrieren“ und sich hierbei deutlicher am Rechtsbewußtsein der Bevölkerung orientieren. Als reformbedürftig sieht die Erklärung vor allem die Kapitel „Staatsverbrechen“ und „Straftaten gegen die staatliche Ordnung“. Zudem sollte in einer Revision der Strafprozeßordnung das Recht auf Verteidigung wesentlich ausgebaut werden.
Zudem müsse auch das Verwaltungsrecht revidiert werden, und dem Bürger die Möglichkeit eingeräumt werden, in Zukunft die wirksame gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen zu erreichen. Die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit gehört seit langem zu den Forderungen der Kirche und unabhängiger Gruppen in der DDR. Auch das Volkspolizeigesetz bedarf nach Ansicht der Anwälte einer Revision, welche die Kompetenzen klarer als bisher regelt. Die Rechtsanwälte fordern dringend die zugesicherte Aufklärung der polizeilichen Übergriffe während der Demonstrationen vom 7. und 8.Oktober.
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