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Archiv-Artikel

DAS SELBSTBESTIMMUNGSRECHT DARF NICHT AM STERBEBETT ENDEN Es gibt keine Pflicht zu leben

Die Debatte um den Vorstoß des Hamburger Justizsenators Roger Kusch offenbart: Aktive Sterbehilfe ist noch immer ein Tabu. Sie auch nur zu thematisieren erregt Proteste. Dabei drängt gerade in Zeiten hoch entwickelter Apparatemedizin eine Frage: Ist es richtig, Menschen das selbst bestimmte Sterben zu verwehren – nur weil sie nicht mehr aus eigener Hand ihr Leben beenden können?

In anderen Bereichen plagt die Gesellschaft weniger Skrupel. Wir billigen Menschen zu, ihr Leben zu verkürzen, solange sie noch selbst zum Giftbecher greifen können. Wir finden es rechtmäßig, ein Kind noch kurz vor der Geburt abzutreiben, weil es am Downsyndrom leidet. Wir halten es für moralisch vertretbar, Menschen passiv in den Tod zu befördern: indem sie verhungern oder lebensverlängernde Arzneien nicht mehr erhalten. Wäre ein rascher Tod nicht humaner?

Zur Klarstellung: Die Debatte darf nicht Hospiz-Bewegung und Sterbehilfe gegeneinander ausspielen. Eine moderne Gesellschaft braucht beide Wege. Oberstes Ziel bleibt es, Kranke so gut zu versorgen, dass der Wunsch nach einem vorzeitigen Tod erst gar nicht entsteht. Doch auch für die übrigen Fälle braucht es präzise Rechtsnormen.

Die Herausforderung besteht darin, den wahren Wunsch eines Kranken aufzuspüren. Das Mittel Patientenverfügung taugt dafür nur bedingt – weil sich vorab niemand so recht vorstellen kann, ab welchem Leidensgrad er sein Dasein als nicht mehr lebenswert empfindet. Und auch bei jenen, die ihren Willen mitteilen können, braucht es gut geschulte Ärzte, die eine Krise vom endgültigen Todeswunsch unterscheiden können und prüfen, ob nicht soziale Gründe – eine schlechte Pflege oder der Wille, die Angehörigen zu entlasten – hinter dem Todeswunsch stecken. Solche praktischen Schwierigkeiten mindern aber nicht die Pflicht, aktive Sterbehilfe als letzten Ausweg anzuerkennen. Der Schwerstkranke hat ein Recht zu wählen, ab wann ihm sein Leid untragbar erscheint. Dies gilt gerade in einer säkularen Gesellschaft, in der nur noch wenige hinter Qualen einen höheren Sinn vermuten. COSIMA SCHMITT