DAS FEHLEN EINER ÖFFENTLICHEN BEDÜRFNISANSTALT IN ZUMUTBARER REICHWEITE ZWINGT HALT ZU NOTLÖSUNGEN : Weiße mit Schuss
ULI HANNEMANN
Es ist um die Mittagszeit, als laute Rufe meinen Blick aus dem Fenster und auf die Straße locken. Dort zieht ein augen- und ohrenscheinlich übelgelaunter Herr seine übelgelaunten Kreise durch die Menge der Passanten. Routiniert weichen die ihm aus, ohne auch nur für eine Sekunde ihre Gespräche zu unterbrechen. Warum auch – vor Karstadt am Hermannplatz tummeln sich ja oft recht extrovertierte Leute, um nicht zu inflationär den doch ein wenig wertenden Begriff „Wahnsinnige“ zu verwenden.
Was der Mann ruft, ist von hier oben nicht zu verstehen, aber der Tonfall legt nahe, dass er mit vielem nicht einverstanden ist: Das kann das Wetter sein, seine persönliche Situation oder auch die politische Weltlage. Das kann die Griechenlandkrise, die Details der Umsetzung der Eurorettung oder auch die Schreibgeschwindigkeit des Herrn Martin Walser sein, der offenbar schon wieder einen dicken Schinken von Roman fertiggeschrieben hat. Man weiß es nicht – man kann in den übelgelaunten Herrn nicht hineinschauen. Ich denke mir, dass ich das eigentlich auch gar nicht will, denn in dem übelgelaunten Herrn drin dürfte es ganz schwarz vor übler Laune sein, und wer will so etwas schon wirklich sehen? Außerdem ist das am Ende gar noch ansteckend.
Aha, der Herr verstummt. Breitbeinig stellt er sich nunmehr an einen Straßenbaum, an dem ein Fahrrad angeschlossen steht. Endlich verstehe ich, und das Verständnis paart sich mit sorgendem Mitgefühl – das also muss es gewesen sein, was er so heftig zu kritisieren hatte: das Fehlen einer öffentlichen Bedürfnisanstalt in zumutbarer Reichweite. Das ist in der Tat ja auch ein wirklich übler Missstand in unserer Gesellschaft! Doch er scheint ein guter Improvisator zu sein und weiß sich auf Basis dieses Talents immerhin eine Art Notlösung zu kreieren. Bevor er loslegt, grüßt er die vorbeifahrenden Autos mit einem strammen Hitlergruß. Das wundert mich, denn ich hätte seine Herkunft eher in Exjugoslawien verortet. Offenbar ist er ausgezeichnet integriert, worauf auch die unter der Urbevölkerung durchaus übliche Wahl des Pissoirbehelfs hindeutet.
Um dieses Muster an Anpassung zu dokumentieren, hole ich schnell die Kamera, doch als ich zurückkehre, ist der Herr leider bereits fertig mit dem Hitlergruß. Ein guter Hitlergruß dauert ja auch nie allzu lange. Das sieht man im Fernsehen: Arm hoch, kurz gehalten und frischauf gebellt, Arm runter, in einem einzigen fließenden, wenngleich zackig angehauchten Bewegungsablauf, wie wir ihn ja auch alle vom Vinyasa Flow Yoga kennen. Ausnahmen bilden nur Parteitage oder Paraden, doch der Karneval der Kulturen liegt schon wieder lange zurück. Das Rad bekommt nun einen ordentlichen Guss ab. Das muss aber ganz schön dringend gewesen sein! Räder, Rahmen, Sattel – kaum ein Einzelteil bleibt unbedacht, da kann sich später keins beschweren.
Endlich ist der Herr fertig mit seinem Geschäft und torkelt, so weit ich von hier aus erkennen kann, ohne die Hose zu schließen, weiter seiner Wege. Zwar hat er sein Lamento wieder aufgenommen, doch es ist deutlich leiser geworden, was auf die Richtigkeit meiner Theorie hindeutet: Er musste eben mal, und hat das allen laut und deutlich klargemacht. Es bringt ja auch nichts, immer zu allem brav und feige die Schnauze zu halten. Man hat schließlich schon im „Dritten Reich“ gesehen, wo das hinführen kann.
Ich überlege kurz, ob ich die Rückkehr des Fahrradbesitzers abwarten soll, entscheide mich aber dagegen. Der Betroffene muss ohne mich und meine Kamera klarkommen. Schließlich ist er ja auch selber schuld: Niemand hat ihn gezwungen, seinen brandneuen Renner ausgerechnet an dem Baum anzuschließen, den der übelgelaunte Herr so bitter benötigte – genaugenommen sogar eine kleine Frechheit.
Wäre es mein Rad, würde mich der Vorfall wider alle Vernunft dennoch betroffen machen, doch zum Glück ist es nicht meins. Für meinen Geschmack hat der Herr also durchaus gut gewählt. Vielleicht ist es sogar sein eigenes, allerdings glaube ich das nicht.