DAS ATTENTAT AUF HRANT DINK BESCHÄDIGT DIE DEMOKRATIE IN DER TÜRKEI : Friedhofsruhe statt Versöhnung
Mit Hrant Dink hat die Demokratie- und Menschenrechtsbewegung in der Türkei ihren wichtigsten Protagonisten verloren. Der türkisch-armenische Journalist wird auf absehbare Zeit nicht zu ersetzen sein. Das gilt für die türkische Zivilgesellschaft allgemein – und insbesondere für die armenische Minderheit und ihre Zukunft im Land. Dink kämpfte für Meinungsfreiheit. Für einen offenen, demokratischen Diskurs. Und für das Recht, die Geschichte des Massenmords an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus armenischer Sicht darzustellen. Dabei ging es ihm nicht darum, die Türken an den Pranger zu stellen. Dink wollte durch Wahrhaftigkeit zur Versöhnung kommen.
Niemand sonst in der Türkei ist jemals so mutig für Wahrhaftigkeit im Umgang zwischen Türken und Armeniern eingetreten wie Dink. Nach dem tödlichen Attentat werden sich wohl weder in den Reihen der Armenier in der Türkei noch in der Demokratiebewegung insgesamt Leute finden, die den Mut aufbringen, die vielfach ideologisch verblendete und historisch uninformierte türkische Bevölkerung mit unbequemen Wahrheiten zu konfrontieren. Das Ziel der Killer war, die innertürkische Debatte über den Völkermord zu beenden. Zuletzt hatte diese Debatte trotz Einschüchterung und justizieller Verfolgung immer breitere Kreise gezogen. Es steht zu befürchten, dass sie nun durch Angst und Friedhofsruhe erstickt wird.
Offiziell wird sich die Türkei weiter einigeln und auf Vorwürfe aus dem Westen immer stärker mit dem Argument kontern, es ginge ja nur darum, das Land zu diskreditieren und so den türkischen Weg nach Europa zu verbarrikadieren. Die Chance, dieses Reiz-Reaktion-Schema durch eine offene demokratische Diskussion im Land zu durchbrechen, haben die Mörder von Hrant Dink für absehbare Zeit vernichtet. Angesichts der Bedeutung, die die geschichtliche Aufarbeitung der Armenierfrage sowohl innenpolitisch als auch im Verhältnis der Türkei mit der EU und den USA hat, haben die Killer über den Tod eines Menschen hinaus auch den weiteren demokratischen Prozess der Türkei maximal beschädigt. JÜRGEN GOTTSCHLICH