piwik no script img

■ DAS ANNO DOMINO - BERLIN DANACHShort stories from America

Die Frage, die ich während meines Aufenthalts in Berlin am häufigsten hörte, war die nach der Veränderung der Stadt. Viele meiner Freunde wollten wissen, ob ich sehen könnte, wie Berlin nach der Öffnung der Mauer vor die Hunde gegangen ist. Ich habe allerdings Veränderungen bemerkt — wenn auch vielleicht nicht die, die meine Freunde beschäftigen. Ich halte diese Zeit inzwischen nicht mehr für das Anno Domini — das Jahr, in dem die weiß-roten Schlagbäume wie Dominosteine fielen.

1989 ist für mich das Jahr, in dem West-Berlin aufhörte, der größte Campus Deutschlands zu sein. Behütetes Kind des Kalten Krieges, konnte es sich diese bestsubventionierte Stadt Europas leisten, Auffangbecken für die politischen und künstlerischen Ergüsse der Nachkriegsgenerationen zu sein. Ich liebte meine Alma Mater in Cornell (geschmiegt an die New Yorker Finger Lakes und die zärtlichen Hände der Mäzene) auch. Aus demselben Grund.

Die erste Klage, die ich von (West-)Berlinern höre, betrifft das Anwachsen der Menschenmassen. In der Tat, es gibt mehr Babuschkas aus dem Osten und einen Haufen blauer Anzüge westlichen Zuschnitts in der Stadt. Aber meiner Meinung nach hat dieser Ansturm nur zur Folge, daß man zum Beispiel länger warten muß, wenn man das öffentliche Klo benutzen will. Und diese Klage verdient die Erwiderung: „Bier und Weiber bleiben doch; Mann, behalt die Hosen hoch!“ Das ist kein Massenandrang, der zur Folge hätte, daß man auf der Straße nicht mehr vorankommt — zwischen den Fußgängern, den Kinderwagen, den Hütchenspielern, den Bettlern (stehend) und den Obdachlosen (schlafend). So daß man in der Gosse gehen muß, um überhaupt in einer Richtung weiterzukommen. Ich habe meinen Freunden wenig Befriedigung verschaffen können, was das Problem der Menschenmassen betrifft, auch wenn der Einwandererzustrom eine Veränderung hervorgebracht hat, die ich begrüße: Berlin ist nicht mehr so weiß. In den vergangenen Jahren hat mich das Aussehen der Berliner Straßen an Cincinnati erinnert (wo ich war, um über den Prozeß zu Robert Mapplethorpes Fotografien zu berichten): die Menschheit durch ein Sieb gepreßt. Abgesehen von den humanitären Gedanken über die Flüchtlinge — und ich nehme an, unter denen, die sich beklagen, spielen humanitäre Gesichtspunkte keine Rolle —, ist das neue Benetton- Berlin ein Plus. Es widerspricht den deutschen Klischees, was ein Werbevorteil ist. Es bietet mehr Arten von Restaurants und wird, wenn die Zeiten des Agitprop vorüber sind, womöglich Kunst hervorbringen. (Denken wir daran, wie gut Amerika es gemacht hat in der Mailer-Roth- Allen-Puzo-Scorsese-Coppola-Generation.)

Ein paar weitere Veränderungen im Berliner Leben kamen mir auch PR-günstig vor. Fußgänger sind eher bereit, bei Rot über die Straße zu gehen. Ich meine nicht die Kosmetikerinnen, Finanzbeamten und Sportlehrer, die mitten im dicksten Verkehr vor die Autos springen. In Orten wie Paris oder New York — also Großstädten — tun sie das jede Minute. Ich meine die Leute, die erst nach rechts und nach links gucken, um zu sehen, ob da irgendwelche Autos auf der Straße sind, so weit entfernt wie, sagen wir, Leipzig. Die aber spät in der Nacht die Straße überqueren, bevor die Ampel Grün zeigt.

Auch dies entspricht nicht mehr dem Klischee, ebensowenig wie die Verspätung, mit der gelegentlich die Kinofilme anfangen. Es gab eine Zeit, da konnte man seine Uhr nach dem Beginn des Films stellen. Jetzt fängt ein Film manchmal statt um 20.30Uhr erst um 20.32Uhr an. Zweimal während der Berlinale wurde später begonnen, weil die Übersetzer für die internationale Presse im Verkehr steckengeblieben waren. Da merkte ich, daß ich nicht mehr in Cincinnati war.

Ich merkte es auch an den neuen Anti-Vandalismus-Schildern in den öffentlichen Verkehrsmitteln. In den letzten Jahren gab es diese Schilder nicht, anscheinend, weil niemand Lust hatte zu randalieren. („Vandal“ kommt laut Webster's Dictionary aus dem Deutschen, das Phänomen breitete sich im 5.Jahrhundert über Europa aus.) Ich war überrascht über diese Schilder; nicht darüber, daß Berliner Teenager das Graffito entdeckt haben, sondern über den Appell der Formulierung, der ungefähr so lautet: In der Kunst können die Meinungen auseinandergehen, beim Vandalismus nicht.

Mich verwirrt, daß die Berliner Verkehrsbetriebe glauben, die Gesellschaft könne unterschiedliche Meinungen über Kunst zulassen. Ich bin höchst erstaunt, daß sie dem Publikum so etwas zutrauen. Was könnte hinter solchen merkwürdigen Ideen stecken? Kein Beförderungsunternehmen der Vereinigten Staaten würde sein Geld für solche Schilder verschwenden. Patrick Buchanan hat kürzlich seine Wahlkampagne mit der „Eine Sicht der Kunst“-Idee aufgepeppt, die seine Sicht ist. Während ich noch in Deutschland war und diese Anti-Vandalismus-Schilder betrachtete, entriß Buchanan seinem Rivalen Bush wichtige Stimmen, weil der dem Nationalen Kunstfonds eine kleine Subventionierung eines expressionistischen, schwarzweißen Kurzfilmprojekts über den schwarzen homosexuellen Mann gestattet hatte. Buchanan sagte, der Film sei Schmutz, und darüber gibt es keine Uneinigkeit. Wenn das die Position ist, die Präsidentschaftskandidaten im Land der Bill of Rights einnehmen, wie kann dann die „Multi Sicht der Kunst“-Position in einem Land mit nationalsoziali... Potenzen eingenommen werden?

Wenn ich bedenke, daß ich keine „Multi Sicht von Kunst“-Vandalismusschilder vor dem Fall der Mauer sah, frage ich mich, ob es wirklich der Vandalismus ist, der neu ist in Berlin. Oder ob nicht vielmehr diese Ideen über Kunst von diesen bolsche... Babuschkas aus dem Osten mitgebracht wurden. Genau wie Buchanan sagt.

Schlußbemerkung: Vielleicht ist die wichtigste Veränderung in Berlin in den letzten Jahren, daß man jetzt fast überall Cola und Sprite Light kaufen kann, ohne Zweifel eine Folge des Zustroms von schlankheitsbewußten Blaue-Anzug- Bürokraten. Wie auch immer, Berlin wird keine richtige Hauptstadt, bis die Blau-Anzügler, die bis Mitternacht an ihren Kampagnen arbeiten, einen Markt schaffen für chinesische Imbißstände.

Aus dem Amerikanischen von Sabine Lange.

SHORTSTORIESFROMAMERICA

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen