DANIÉL KRETSCHMAR ÜBER DIE FEIERN ZUM 70. JAHRESTAG DES D-DAY : Remember Stalingrad
Es ist nur menschlich, eine Erzählung der eigenen Geschichte zu suchen, in der Gutes, Wahres, Schönes dominiert. Eine Erzählung, in der unsere heutige Existenz, wenn vielleicht noch nicht die Krönung, so doch ein wichtiger Schritt auf dem richtigen Weg ist.
Das aber will schon nicht klappen, wenn man die Nase hinter die Kulissen jeder beliebigen anderen nationalen Erzählungen hält – praktisch immer stinkt’s da nach Leichen. Überhaupt unmöglich wird das feine Narrativ jedoch in dem Land, dessen Rechtsvorgänger als Feuerwalze über die Welt gerollt ist und dabei die industrielle Vernichtung der Juden betrieb.
Wie also das Gefühl loswerden, es wäre nur gerecht gewesen, die Alliierten hätten zwischen „Maas und Memel“ alles einfach niedergebrannt? Zum Beispiel so: Man schlägt sich auf die richtige, die gute Seite. Je nachdem, aus welchem der beiden deutschen Nachkriegsstaaten wir kommen, haben wir unser Zipfelchen vom Tischtuch der Guten entweder bei den tapferen Verschwörern vom 20. Juli abbekommen oder beim aufopferungsvollen kommunistischen Widerstand.
In DDR-Geschichtsbüchern wurde ganz im Sinne des guten, des antifaschistischen, des siegreichen Patriotismus selbst in den 1980er Jahren noch Stalin bemüht: „Die Hitlers kommen und gehen, aber das deutsche Volk wird es immer geben.“
Was als taktisch überlegte Geste die Besiegten beruhigen sollte, kann rückblickend auch als Drohung verstanden werden: Das deutsche Volk ist geblieben, und zu seinen Tugenden gehört nicht unbedingt Demut vor den Opfern des und den Befreiern vom Faschismus.
So überrascht es fast, dass Angela Merkel die Teilnahme Wladimir Putins an den Feierlichkeiten zur Landung in der Normandie dringend empfohlen haben soll. Die Ironie ist der Geschichte eingeboren – versöhnliche Worte von den Nachkommen der Besiegten an den weltpolitischen Außenseiter.
Die Kanzlerin kann heute im Sand der Normandie darüber reflektieren, wie weit es Deutschland seit dem 6. Juni 1944 gebracht hat. Jenem Tag, an dem die totale Niederlage des deutschen Faschismus mit der Eröffnung der Front in Frankreich in greifbare Nähe rückte. Besiegt waren unsere Großeltern da schon längst – und seit Stalingrad wussten sie das auch.
Stalingrad, dieser Ort, der in Deutschland nur als Leidenserzählung existiert: Hunderttausende brave Landser, die im grausamen Winter verreckten, von den endlos anrennenden Rotarmisten aufgerieben und von Hitler im Stich gelassen. Dort fand der deutsche Wahn sein klägliches Ende durch die Hand des Russen, des slawischen „Untermenschen“. Daran erinnert sich der Herrenmensch nicht gerne; und wenn doch, dann als Opfer.
Dieses Umdeuten der eigenen Soldaten zu Opfern eines quasi übernatürlichen Geschehens und das Vergessen ihres Wirkens als Täter trieb wiederum Helmut Kohl, der sich 1984 noch mit der Versöhnung über den Gräbern des Ersten Weltkrieges zufriedengeben musste, geschickt voran.
Als er 1985 zusammen mit Ronald Reagan den deutschen SS- und Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, rehabilitierte er die Mitglieder der verbrecherischen Organisation, soweit es eben ging: als Opfer unter Opfern des großen Krieges. Die Frage nach der Schuld war in den Hintergrund gestellt. Was damals den Historikerstreit auslöste, würde heute wohl nur mit Achselzucken zur Kenntnis genommen werden. Außer vielleicht – in Russland.
So wird also der D-Day dieser Tage nur als militärische Operation wahrgenommen: auf seine Weise kriegsentscheidend, ausgefochten zwischen zivilisierten Nationen, mit großen persönlichen Opfern auf beiden Seiten. In Stalingrad aber wurde das deutsche Wesen gebrochen. Das haben wir nicht vergessen – und die Russen auch nicht.
Ein angemessenes Gedenken an den Zweiten Weltkrieg zu finden, in Deutschland zumal, wird zur zähen Angelegenheit. Dabei könnte es so einfach sein: Man muss sich freuen, verloren zu haben. Unsere Helden können nur jene sein, die im Kampf gegen Massenmörder ihr Leben einsetzten. Die Massenmörder aber waren unsere Großeltern – am „Omaha Beach“, in Stalingrad, in Auschwitz.