Cybermobbing in der Ukraine: Kompetenz versus Äußerlichkeiten
Die Direktorin des Holodomor-Museums in Kyjiw muss sich aktuell gegen Bodyshaming im Internet wehren. Sie will vor Gericht einen Präzedenzfall schaffen.
Alles begann vor einigen Tagen mit einem Facebook-Post des bislang kaum bekannten Juristen Klym Bratkivskiy. „Haben Sie gesehen, wie die Leiterin des Holodomor-Museums, Lesia Hasydzhak, aussieht? Das ist eine Art Verhöhnung der Erinnerung an den Holodomor“, schrieb er und spielte damit auf das Körpergewicht von Hasydzhak an.
Dazu muss man wissen, dass der Begriff Holodomor in der Ukraine für eine von der Politik Stalins in den 1930er Jahren herbeigeführte Hungersnot steht. Ihr sollen allein in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik schätzungsweise rund 4 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein. Einige Nutzer*innen äußerten sich empört und meinten, dass das Aussehen eines Menschen keinen Einfluss auf seine beruflichen Qualitäten habe.
Doch Bratkivskiy ließ nicht locker. In seinem nächsten Post erklärte er, man solle das Museum von einem Militär leiten lassen, der in russischer Gefangenschaft gewesen sei. So wisse dieser, was wirklicher Hunger sei. In den Kommentaren machten sich einige Nutzer*innen ebenfalls über die Museumschefin lustig. Eine Mehrheit jedoch verurteilte die Äußerungen: Gerade er als Anwalt müsse verstehen, dass derlei Thesen diskriminierend seien.
Hasydzhak erklärte zwar, dass sie die Beleidigungen nicht persönlich getroffen hätten. Jedoch werde sie vor Gericht ziehen, weil „solche Geschichten jeden Tag passieren und viele Frauen in der Ukraine Hass ausgesetzt sind“. Bodyshaming könne bei anderen Frauen zu seelischen Traumata oder sogar zum Suizid führen. Öffentliche Entschuldigungen würden daran nichts ändern. Die 42-Jährige wolle deshalb einen Präzedenzfall für die Bestrafung von körperlichem Mobbing schaffen.
Auf die Situation reagierte auch die feministische Initiative „Frauenmarsch“. Vertreter*innen fragten Bratkivskiy sarkastisch, wie viel ein Anwalt wiegen müsse, um als Fachmann zu gelten, und ob es für andere Berufe klare Gewichtskriterien gebe. Hasydzhak hatte die Leitung des Museums nach einem Skandal um dessen Chefin übernommen. Wegen der Neuberechnung der Opferzahlen des Genozids hatten die Behörden Olesia Stasiuk Inkompetenz vorgeworfen. Historiker*innen und das Kulturministerium hatten die Ansicht vertreten, Stasiuk habe die Zahl der Opfer des Holomodor zu hoch angesetzt. Die Fragwürdigkeit der Berechnung würde den Prozess einer internationalen Anerkennung des Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk beeinträchtigen.
In Bezug auf das Holodomor-Museum arbeitete sich besagter Jurist Bratkivskiy übrigens ebenso an der Entscheidung des ukrainischen Parlaments ab, für dessen Fertigstellung zusätzliche 574 Millionen Hrywnja (14 Millionen Euro) zu bewilligen. Vor Kurzem hatte auch Präsident Wolodimir Selenski ein Veto gegen die Entscheidung eingelegt. Dies war auch eine Reaktion auf die scharfe Kritik aus der ukrainischen Gesellschaft an den Haushaltsausgaben. Diese sollten nur mit Dingen verknüpft sein, die mit dem Krieg zusammenhängen.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen