Cy-Twombly-Retrospektive in der Tate Modern: Flüsternde Zeichen
Cy Twombly ist ein Popstar: Es gibt Twombly-Taschen-, -T-Shirts, -Postkaten, -Radiergummi. Darüber wird leicht vergessen, dass er vor allem Künstler ist.
Im vergangenen Jahr landete eine junge Künstlerin vor Gericht, weil sie in Avignon auf einem über Zwei-Millionen-Dollar-Werk des amerikanischen Künstlers Cy Twombly ihren knallrot geschminkten Kussmund hinterließ. Ein bekennender "Act of Love", das Weiß der Leinwand hätte Twombly nur für sie geschaffen. Die Kunstwelt rang nach Luft, dabei hätte Cy Twombly über diese Art der Signatur bestimmt am lautesten gelacht. Soll er doch selbst einmal ein gerade zuvor verkauftes Bild seines Freundes Robert Rauschenberg spontan übermalt haben.
Es ist nicht leicht, eine Retrospektive über Cy Twombly zu machen, ohne schon im Vorfeld vom Hype erdrückt zu werden. Das scheinbar Rätselhafte, Geheimnisvolle in den Bildern des heute 90-jährigen Malers, der den USA den Rücken kehrte und nach Europa ging, zieht an. Twombly wird beschworen als ein bewusst die Einsamkeit suchender, medienscheuer Zeitgenosse, der durch den ständig mitgelieferten Zusatz, dass er ja so gut wie nie Interviews gebe, auf die Welt scheinbar noch geheimnisvoller wirkt und auf Auktionen zu Rekordpreisen gehandelt wird. Der Tate Modern gelingt es dennoch, die derzeitige Hysterie im mit Twombly-Taschen-, -T-Shirts, -Postkaten, -Radiergummi vollgepackten Museumsshop zu lassen und die Ausstellung ein wenig von der Biografie zu lösen. Zwar wird die Übersiedelung nach Italien, fern der Zeitgenossen des Abstrakten Expressionismus, als einer der Hauptargumentationsstränge in Bezug auf das Oeuvre beibehalten. Doch mehr erklärend als sprachlos verehrend.
Im August 1952 kam Twombly das erste Mal nach Italien, zusammen mit Robert Rauschenberg, bevor er 1957 seinen Wohnsitz dauerhaft nach Rom dorthin verlegte. Für die Bilder dieser ersten Jahre ist Twombly berühmt geworden, gewiss auch, dieweil man ihnen regelrecht ablesen kann, wie die kulthaft gepflegte Geschichte, Kultur und Mythologie Europas samt mediterranem Licht auf ihn einprasseln mussten wie ein kleiner Kulturschock.
Schrift und Ziffern brabbeln auf den Leinwänden, flüstern und stammeln, wie die Spuren, die Menschen auf Pappkartons oder speckigen Lira-Scheinen hinterlassen. Auf seinen berühmten "Poems to the Sea" (1959) sind es auf den hellen Grund gekrakelte Zahlenreihen, die zunächst noch, scheinbar unter dem strengen Blick der imaginären Autorität, ordentlich beginnen, bevor alles in einer Mischung aus Ungeduld und Scheitern in unkenntliche Schwünge abdriftet. Noch in den USA zeichnete Twombly oft nachts im Dunkeln und spürte der surrealistischen Technik des automatischen Schreibens nach.
In der Zeichenhaftigkeit seiner Arbeiten steckt nicht zuletzt auch Twomblys Aufforderung, ihre Textur dicht vor der Leinwand zu entziffern, anstatt sich von scheinbarer Dreidimensionalität ins Bild locken zu lassen. So steht man in der Schau vor den großen, hellen Leinwänden legendärer Bilder, wie "The Italians" (1961) wie vor einer Graffitiwand und erkennt fahrig hingekritzelte Chiffren verklemmter Pupertätsfantasien, wie Penisse, Brüste, Gesäße, ins Nichts führende Treppen.
Bewusstes Entziffern lernte Twombly damals selbst während seiner Ausbildung zum Kryptografen bei der US-Armee, und es wird kein Zufall sein, dass die Tate gleichzeitig in ihren anderen Räumen Streetart zeigt. Dabei herrscht im scheinbaren Chaos aus Zeichen eine konzeptionelle Ordnung, wie ein perfekt ausgewogener Sound, womit Twombly seinen fernen Kollegen des Abstrakten Expressionismus gar nicht so unähnlich war. Hinter der Anordnung der Symbole, der Worte und gehetzt über das Bild jagenden Zahlen könnte sich, in Bildern wie "Crimes of Passion II" (1960), auch der Grundriss der wirr gewachsenen Stadt Rom verbergen, in der man ohne Plan verloren ist.
Die Tate-Retrospektive lässt sich beim Ausbreiten der wichtigen Sechzigerjahre viel Zeit und verteilt die folgenden Jahrzehnte auf die restlichen Räume. Das wunderbare Polyptychon von 1981 über den Liebestod des mythologischen Paares "Hero and Leandro" im Meer hängt in einem eher unruhigen Durchgang. Twombly lässt Leandro versinken, sein geschriebener Name schwimmt noch einen Moment leblos auf dem Wasser, bevor alles in mediterranem Weiß versinkt. Diese Art der Dramaturgie ist einzigartig und reißt Abstraktion und Gegenständlichkeit genussvoll die strengen Prinzipien weg.
Zu wenig Platz bekommen bekommen auch die grandiosen Skulpturen, die Twombly 1976 nach 17-jähriger Skulpturen-Pause wieder schuf, ein viel zu selten gezeigter Teil seiner Arbeit. "Weiß ist mein Marmor", hatte er befunden und architektonische, minimalistische Gebilde aus Resten zusammengebaut und weiß angemalt, wodurch sie fast rührend ihre Unperfektion präsentieren, aber sich gleichzeitig aufplustern, als seien sie antike Obeliske und Tempel. Es geht dabei nicht darum, die europäische Antike als Pappschachtelkolonie zu belächeln. Und nicht anders wird es mit der Liebesbekundung in Form des roten Lippenstifts auf dem Twombly-Gemälde gewesen sein.
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