Cowboy konnte ich nicht werden

■ Wie man in der DDR zum Film kam bzw. gerade nicht kam: Gespräch zwischen den Filmemachern Dietmar Hochmuth und Herwig Kipping, dessen „Land hinter dem Regenbogen“ heute startet

Herwig Kipping hat ein großes Thema gefunden“, schrieb Antje Vollmer Anfang Juli in der taz über Kippings neuen Film „Land hinter dem Regenbogen“: „die Verwerfungen und Verwüstungen von Diktaturen in den Seelen der nächsten Generationen.“ Kipping hatte den Film kurz nach der Wende gemacht, jahrelang wurde ihm in der DDR keine Gelegenheit mehr zur Arbeit gegeben, seit „Hölderlin“, dem Abschlußfilm an der Babelsberger Filmhochschule von 1982, war er im DDR-Kino gewissermaßen verschollen. Antje Vollmer saß in der Auswahlkommission für den Bundesfilmpreis und schlug eine Bresche für Kippings Film. Als Kipping das Filmband in Silber bekam, hatte er gerade eine ABM-Stelle in einem Kindergarten. Heute startet „Das Land hinter dem Regenbogen“ in den Kinos.

Dietmar Hochmuth: Du galtest in der DDR geradezu als das Synonym für Verbot, verhinderte Karriere, Gemiedensein. Plötzlich erfahren die Dinge eine Umwertung. Deine Widersacher erscheinen in anderem Licht. Die Partei war für sie doch nur ein Überlebensboot. Das hatte ich so kraß nicht vermutet. Ich hab die für Gesinnungstäter gehalten.

Herwig Kipping: Ich war auch drin. Zwei Jahre, ich bin '82 rein.

D.H.: Dir unterstelle ich kaum karrieristische Motive.

H.K.: Na doch! Ein bißchen war's auch so — ich hab gehofft, Karriere zu machen, mit 36. Als ich in die Partei aufgenommen wurde, hab' ich geheult. Ich habe immer das Bedürfnis gehabt, irgendwo anzukommen. Ich war schon auf dem Dorf ein Außenseiter, einer, auf dem herumgehackt wurde.

D.H.: Du kommst also doch aus dem Dorf „Stalina“...? [So heißt das Dorf in Kippings Film, A.d.R.]

H.K.: Nein, aus Mayen bei Naumburg, kann man hinlaufen, ein ganz niedliches Dorf, auf so einer Hochebene, aber auch da waren wir nicht zu Hause. Meine Mutter kam sonstwoher, mein Vater war fremd. Und da bist du dann eben mit fremd.

D.H.: Und du hast in Naumburg Abitur gemacht?

H.K.: Nein, in Leuna, um von der LPG wegzukommen, ich sollte doch auf die LPG. Mein Vater war LPG-Vorsitzender. Ich sollte ein Vorbild sein für die anderen Jugendlichen im Dorf. Ich wollte aber keins sein. Ich wollte weg. Nach Amerika. Ich wollte Cowboy werden, das konnt' ich nicht, war ja alles zu '64, da kriegte ich Panik. Und bin nach Leuna gegangen. Da haben sie gerade Betriebsschlosser gesucht. Dann bin ich in die Abiturklasse gekommen. Wir hatten immer gefeilt, vier Tage in der Woche, und die haben bloß zwei Tage in der Woche gefeilt. Das war für mich der Himmel.

D.H.: Dieses Feilen kenne ich auch noch. Es hat, glaube ich, ganze Generationen in der DDR geprägt.

H.K.: Die Blasen an den Händen...

D.H.: Wir haben immerzu Garderobenhaken und Vorhängeschloßriegel für Spinte im Knast gefeilt, und zwar in Rummelsburg, und es hieß immer, wir feilen das „für gegenüber“ — da war der Knast. Eine tolle Motivation.

H.K.: Wir mußten ewig solche Paßstücke feilen, ganz glatte Flächen. Bei mir war das immer so gebogen. Die Ecken waren immer weggefeilt, es gab keine Kante.

D.H.: Dann hast du Mathematik studiert?

H.K.: Ja, viereinhalb Jahre. Hier in Berlin, Humboldt-Uni...

D.H.: Zu Ende?

H.K.: Nein, im fünften Jahr ging ich raus. Da waren sie böse. Während der Diplomarbeit. Ich sollte in das Zentralamt für Statistik. Da wollten sie einen Zentralcomputer für alle entwickeln. Jeder DDR-Bürger sollte da erfaßt werden, und ich sollte mitarbeiten.

D.H.: Denkst du manchmal daran zurück, wie an einen Umweg?

H.K.: Ich empfinde Trauer darüber. Es war einerseits was Vertanes, weil ich nicht für Mathematik geschaffen bin, andererseits mußte ich erst lernen, wie wenig ich dafür geschaffen bin. Aber ich habe ja nicht viereinhalb Jahre unentwegt Mathematik gemacht. Ich wohnte in einem Wohnheim, das hieß richtig „Stalin-Bau“, sieht aus wie die Karl- Marx-Allee. Da war einer, der hat Psychologie studiert, der ist immer in unser Zimmer gekommen und hat Reden gehalten über Nietzsche, Dostojewski. Der hat mich fasziniert, der hat alle fasziniert — wahrscheinlich war er von der Stasi.

Ich hatte bis dahin an der Uni das Gefühl, wir werden nur auf Automaten abgerichtet, da war der Computer noch groß im Kommen, EDV. Es war widerwärtig. Das nicht, dachte ich mir. Nur das nicht! Und der Typ kam plötzlich wie so'n Geist aus der Flasche und verkündete sozusagen so eine Übereinstimmung mit dir, mit deiner Seele, den Gedanken, mit deinem Leben. So eine Dreieinigkeit... Den hab' ich angehimmelt. Und dann wollte ich wieder mal weg, wollte keine Mathematik mehr machen, wollte mich umschulen lassen auf Psychologie und sowas. Nur gut, daß es nicht gelungen ist. Aber zum ersten Mal habe ich Dostojewski gelesen, Nietzsche, Georg Heym. Es war meine Geburt als geistiges Wesen. Es war wunderschön.

Dann war ich Hilfsarbeiter in Berlin, zwei Jahre, Bahnpostfahrer. „Aussacker“, der letzte im Wagen. Da gibt es so fünf sechs Leute in gut besetzten Bahnpostwagen, und ich war der letzte, der Aussacker. Ich habe einfach gemerkt, so geht's nicht. Ich wollte doch immer Gedichte schreiben, deshalb hatte ich aufgehört mit der Mathematik.

D.H.: Bist du zwischendurch immer wieder mal nach Mayen zurück?

H.K.: Nein, mein Vater war doch eher so'n Unglückswurm. Der war erst LPG-Vorsitzender gewesen, dann wegen Alkohol und wegen Frauengeschichten degradiert worden; weggegangen. Nach Thüringen, ins Mühltal bei Eisenberg. Und da hat er gearbeitet, ist er auch nicht zurechtgekommen, und da gab es dann so eine Initiative — alle Genossen nach dem Norden. Das war irgendwann Anfang der 60er Jahre.

D.H.: Stichwort „Egon und das achte Weltwunder“ — kein Westler wird das je verstehen...

H.K.: Mein Vater ging nach dem Norden in so ein ganz kleines Dorf, das hieß Grenz, und da war er dann, als ich Mathematik studiert habe... Später sind sie, als ich schon Bahnpostfahrer war, nach Berlin gekommen, in die Nähe... Kummersdorf hieß das. Kummersdorf. Ein wunderschöner Name für mich.

D.H.: Du warst drei Jahre in der Armee, warum so lange?

H.K.: Ich wollte Fallschirmjäger werden, hatte aber schlechte Zähne. Das wollten sie nicht, außerdem waren sie sofort mißtrauisch, als ich Fallschirmjäger werden wollte. So mußte ich ein Jahr in Berlin verbringen, da hab ich keine Wohnung gehabt, damals war noch Zuzug erforderlich, das war '82, du brauchtest eine Genehmigung, um in Berlin zu wohnen, ich bin dann aus dem Internat gewechselt nach Lichtenberg in so eine Wohnung und hab da ziemlich asozial gelebt mit so einer Matte auf dem Boden, bin nur noch nachts 'rausgegangen, am Tag hab ich geschlafen, also es war ziemlich schlimm, ich war richtig out... Dann bin ich zu den Funkern in der Volksarmee gegangen.

D.H.: Und wie kamst du zur Filmhochschule?

H.K.: Damals hab ich an der Unteroffiziersschule jemanden getroffen, der war Volontär in Adlershof... Der hat mir vom Fernsehen was vorgeschwärmt, ich hab doch immer einen Posten gesucht, wo ich Gedichte schreiben kann. Das ging ja nicht als Bahnpostfahrer, weil ich einfach so müde war, und der hat mir gesagt, da gibt's Regisseure, die kriegen das bezahlt...

D.H.: Und schreiben nicht mal Gedichte!

H.K.: Ich hab gedacht, das ist die Chance, da mußt du hin, du mußt zum Fernsehen, Regisseur werden, da kannst du Gedichte schreiben. Ich bin da 'rangekommen, mit Glück, glaub' ich, zum Volontariat beim Fernsehen, da war ich ein Jahr Regieassistent, und dann haben sie mir keine Delegierung gegeben für die Hochschule, weil ich ihnen irgendwo nicht gepaßt habe. Den anderen haben sie sie gegeben, aber ich hatte dummerweise als einziger die Aufnahmeprüfung bestanden. Also mußten sie mich doch schlucken. So kam ich zur Filmhochschule.

Dort war ich „rot“, da gab's eine Dozentin, die hat sehr viel von Rußland erzählt, von diesen 20er Jahren, Eisenstein, Pudowkin. Das hat mich fasziniert, diese 20er Jahre: Dowschenko, „Die Erde“ vor allem, ein wunderschöner Film. Und da hab ich mich so eingekitscht: Revolution — das bedeutet also Eisenstein, Pudowkin, Dowschenko. Kommunismus, Rotsein im Film. Dann gab's Tarkowski, und der war für mich der Nachfolger von den dreien. So konnte ich Regisseur werden. Der eigene Schlüssel war für mich eine Filmübung an der Hochschule, wo ich plötzlich etwas gemacht hatte, das Gefühle ausdrückte. Ich war bis dahin immer immer nur „pseudo“, wollte einen Beruf ausüben, um zu schreiben. Plötzlich war da etwas, womit ich Aufmerksamkeit erregte. Du brauchst den Erfolg. Sonst wirst du erstickt. Du bleibst ein Stammler.

Dann hab ich den „Hölderlin“ gemacht, auch weil ich keine Gedichte veröffentlichen konnte, wo ich doch so viel geschrieben hatte, die alle nicht gedruckt wurden, obwohl sie gar nicht so schlecht sind, glaube ich. Da ist etwas in mir aufgebrochen, das vollkommen über alles hinausging, was da vorher war. Wenn man besessen ist, passiert das einfach... Es zählte nur nicht. Es war kein Wert für andere. Ich habe in einer Luftblase gelebt. Ich war allein für mich. Zehn Jahre später, als ich den „Hölderlin“ machte, hab ich da angeknüpft. Meine Gedichte schrieb ich 1971/72.

Mein ganzer Entwicklungsweg war ein einziges Wechselbad zwischen dem Versuch, sich anzupassen, und dann zu merken, daß die Anpassung in irgendeine Richtung lief, die ich nicht wollte. Immer wieder dasselbe Schema: daß man in etwas hineingezogen werden sollte, wo man dann gemerkt hat, wenn du das machst, bist du das nicht mehr, was du jetzt bist. Das waren so Warnsignale, irgendwo vom Instinkt her oder vom Lieben Gott oder — ich weiß nicht.

D.H.: Nicht jeder hat es sich geleistet, sich diesem Sog zu verweigern.

H.K.: Ist es nicht ein Elend, daß es keine Gruppen gab? Daß wir alle so kleinlich vor uns hingewerkelt haben?

D.H.: So ist es heute auch.

H.K.: Jeder wurde irgendwie geködert.

D.H.: Aber diese Verbots-Aura war in der DDR eine Art Anerkennung, zugleich eine bequeme Enklave: Darin konnten viele sich aufbauen. Um so mehr war ich neulich erleichtert, daß mir Dein Film gefiel, weil ich immer befürchtete, und das hat man ja oft erlebt, daß sich das fortsetzt in diese Zeit hinein. In der DDR konnte eine Frau in der Opernkantine sitzen und sagen, sie darf in „Tristan und Isolde“ nur nicht singen, weil sie nicht in der Partei ist, alle haben's geglaubt, ihr auf die Schulter geklopft und gesagt, achja, furchtbar. Jetzt auf einmal kann sie singen, und es stellt sich heraus, sie hat gar keine Stimme.

Ich hatte Dir einmal bei einer Vorführung in Frankfurt/Oder vor Jahren gesagt: Ich verstehe die ganze Dramatik mit diesem ungeliebten Film „Hölderlin“ und daß es nicht weiterging, doch es ist nicht hilfreich, daß du mit dem Film unentwegt herumreist, um in vor lauter Rührung begeisterten Filmklubkreisen diese Verbots-Aura zu pflegen. Er war immerhin sechs Jahre alt.

H.K.: Das Gleiche trifft auf dich zu, du hattest auch diese Aura, hast ja genauso in ihr gelebt in der DDR, und die hat einem im gewissen Sinn den Blick verstellt. Sie war einerseits hilfreich, um das Selbstbewußtsein zu halten, andererseits war sie hinderlich, um irgendwo am Horizont einen Verbündeten zu sehen.

D.H.: Heute weiß ich das auch. Damals hast Du ja in jedem Ratgeber sonstwen vermutet.

H.K.: Genau. Und deshalb ist es ganz gut, daß die Situation jetzt so ist, wie sie ist.

D.H.: Jetzt ist es umgekehrt. Heute gibt es gar keine Ratgeber. Man läßt dich laufen, kein Mensch interessiert sich mehr für dich. Fürsorge war's ja auch, nicht nur Kontrolle.

H.K.: Sag mal, ein bißchen Sehnsucht hast du wohl auch manchmal?

D.H.: Eigentlich nicht. Ich sag' immer, wenn mich früh morgens eine Telefonat wecken würde, etwa aus dem Büro des Chefdramaturgen oder Generaldirektors der DEFA, Sie sollen um neun hin und mit einem neuen Stoff antanzen — ich glaube, ich würde mir einen Strick nehmen, ohne vorher die Zähne zu putzen. Aber wie geht es nun weiter bei Dir?

H.K.: Wenn ich so entscheiden soll, mit wem ich meinen oder einen nächsten Film mache, stehe ich vor der Frage, wen hab ich denn da vor mir? Die Westler sind so undurchsichtig, andererseits zu durchsichtig.

D.H.: In der DDR warst du lange verkannt, die wollten Dich nicht, Du hast es ihnen auch relativ leicht gemacht, indem Du gleich alle möglichen Angriffsflächen botest. Aber im Prinzip wechselst Du jetzt im Neuwesten aus diesem Verkanntsein ins Unbekanntsein. Bei dieser Bundesfilmpreisverleihung ging es mir so: In der DDR gab es immer so einen Alibitag für Behinderte, da kam dann Erich Honecker und ließ sich fotografieren mit einem Rollstuhlfahrer, und einen Tag später brachen dann die Rollstühle wieder zusammen im Alltag, die Räder brachen ab, und Honecker war über alle Berge. Ähnlich war es bei dieser Bundesfilmpreisverleihung. Herr Seiters zeigte sich da für zwei Stunden, plauderte mit Hilde Kneef, flog dann wieder weg — der hat sofort vergessen, was da los war, und der deutsche Film fährt wieder im Rollstuhl ohne Räder. Insofern ist es natürlich auch eine fatale Situation, in der wir uns jetzt hier befinden.

D.H.: Aber noch mal ein bißchen zu Deiner nicht stattgefundenen DEFA-Vergangenheit...

H.K.: Nach dem „Hölderlin“ kam so ein surreales Grimm-Projekt auf, aber nach meinem Parteiverfahren war sowieso nichts mehr drin...

D.H.: Und das hing ursächlich mit diesem Dachdecker-Film beim Fernsehen zusammen? Wie lautete da eigentlich der Vorwurf?

H.K.: Es war eine Reportage, die war wohl nicht aufbauend genug. Ich bin ausgeschlossen worden wegen antisozialistischer Haltung.

D.H.: Spielte dabei vielleicht eine Rolle, daß Honecker Dachdecker war?

H.K.: Ja, der Chef, Jörg Teuscher, ist damals zur Schnittmeisterin gegangen und hat gesagt: „Was soll denn der Genosse Honecker über die Reportage sagen, wenn er aus Äthiopien wiederkommt?“ — der war gerade in Äthiopien gewesen — „der muß doch was Schönes zu sehen bekommen und nicht das!“ Nach der Wende hat Jörg Teuscher die Sendung „Klartext“ erfunden.

D.H.: Irgendwann, schon lange vor 1989, gab es dieses Projekt „Land hinterm Regenbogen“.

H.K.: Ab 1986, im Herbst, hab ich von der DEFA drei Monate je 1.000 Mark gekriegt, das war für mich ein Vermögen, da durfte ich recherchieren über ein Thema. „Materialsammlung“ hieß das damals. Bäuerliches Milieu, ein Junge vom Dorf und alles unrecht. Aber ohne Stalinismus. Das sollte nicht sein. Ich hab dann ein Exposé geschrieben aus dieser Materialsammlung, dann wurde ich Meisterschüler an der Akademie der Künste. Das bedeutete 500Mark im Monat — das war kein Vermögen, aber davon konnte man leben, glaubt heute keiner, doch es war so... Ich hab 300Mark Alimente gezahlt und hatte noch 200Mark zum Leben, das hat gereicht.

D.H.: Was hattest Du für Gefühle, als Du plötzlich nach der Wende Deinen Debütfilm machen durftest?

H.K.: Das war wie 1989, etwas Unglaubliches!

D.H.: Hattest Du da nicht auch Skrupel?

H.K.: Ja, nach verschiedenen Seiten hin. Gegen mich, wie weit ich mich hinüberbegeben hatte.

D.H.: Gab es auch Skrupel, daß man jetzt nach so langer Zwangspause gefeiert wird in so einer Alibi- Rolle? Das war ja doch eine späte Wiedergutmachung durch die DEFA.

H.K.: Das war mir egal. Wenn ich so pingelig sein will, krieg' ich nie einen Stoff. Sie hatten keinen Einfluß drauf. Sie hatten inhaltlich überhaupt nichts zu sagen... Vielleicht ein seltener, ein historischer Augenblick, der so schnell nicht wiederkommt. Ich war jedenfalls erst mal froh, daß ich überhaupt drehen konnte.