: Computerspielend lernen
taz-Serie „Engagement macht Schule“ (Teil 5): An der Jens-Nydahl-Grundschule in Kreuzberg werden schon bei den Erstklässlern PCs im Deutschunterricht eingesetzt – und die Schüler bleiben dran
VON JEANNETTE GODDAR
Was hört sich gleich an und was nicht? Hut, Hahn, Dose? Pinsel, Puder, Schulhof? Murat richtet die Augen gen Decke. Klingt Dose wie Hahn? Hahn wie Hut? Hut wie Dose? Er rückt seinen Kopfhörer zurecht. Dann greift er zur Maus und dirigiert sie zu Gefieder und Kopfbedeckung. Dengel, dengel, klingelt es in Murats Ohr: richtig! Als Nächstes sucht er zu den schillernden Animationen auf dem Bildschirm die richtigen Anfangsbuchstaben und klickt sie an: Nase, Hose, Bär. Im Deutschlehrerdeutsch heißt das, was Murat tut; „Anlaute vergleichen“. Den Siebenjährigen interessiert das wenig. Er sitzt einfach und wie so oft vor einem Computer und übt Lesen und Schreiben. 45 Minuten lang, mehrmals in der Woche und gemeinsam mit elf Mitschülern.
Die zwölf sind in der ersten Klasse und so klein, dass man sie sich kaum als Computernutzer vorstellen kann. Wer nicht richtig lesen und schreiben kann, der kann mit neuen Medien nicht nicht viel anfangen, denkt man. Irrtum, hat die Jens-Nydahl-Schule in Kreuzberg herausgefunden und setzt interaktive Lernwelten schon wenige Wochen nach der Einschulung ein. Gründe dafür nennen die Lehrer eine ganze Reihe: weil die Kinder länger dabei bleiben, immer dasselbe zu üben, wenn sie vor animierten Bildern sitzen und mit etwas Glück mit einem Spiel belohnt werden. Weil vor allem schwache Schüler sich gegenüber einem virtuellen Lehrer mehr trauen als vor der Klasse. Weil jeder in seinem Tempo lernt, keiner hinterherhinkt und niemand voranprescht.
Aber auch, weil die Lehrer den Computer für ein Gerät halten, das beim Sprach- und Schrifterwerb besonders in schwierigen Fällen dienlich sein kann. Er bringt die Schrift zum Sprechen, verknüpft Buchstaben mit Wörtern und Bildern und kann das alles bewegen und von verschiedenen Seiten zeigen. Die Kinder im Raum sind nämlich keine, deren Finger schon mit drei mit Mamis oder Papis Hilfe über die Tasten huschten. Sie bilden eine Förderklasse, in der ausschließlich Kinder nichtdeutscher Herkunft unterrichtet werden. Murat, Hakan, Angie, Renata und die anderen kommen aus Familien, in denen wenig bis gar kein Deutsch gesprochen wird. Die Schule wenige Meter südlich vom Kottbusser Tor ist eine von denen, über die auch so etwas in der Zeitung stehen könnte: „Lehrer schlagen Alarm: Keiner spricht Deutsch!“ Oder so ähnlich. 94 Prozent der Schüler sind nichtdeutscher Herkunft, oder, andersherum gesagt: Von 600 Schülern stammen 36 aus einer deutschen Familie.
Spricht man die Schulleiterin darauf an, erklärt sie völlig unalarmiert, man renne keiner Quote hinterher. Man müsse „denen, die kommen, zu einer Chance verhelfen“, findet Manuela Seidel. Wenn sich das herumspreche, würden die deutschen Kinder eines Tages ganz von selbst kommen. Es ist nämlich nicht so, dass zwischen Landwehrkanal und Kottbusser Tor 94 Prozent Ausländer wohnten. Nur: Viele deutsche Eltern winken angesichts der vielen ausländischen Schüler erst einmal ab und greifen auf Omas und andere Anverwandte als Wohnsitzadresse für ihren Nachwuchs zurück. Der dann auf eine andere Schule geht – mit mehr deutschen Kindern.
Dabei hat man an der Jens-Nydahl-Schule weit über den Computer hinaus eine ausgefeilte Strategie entwickelt, um Schülern trotz widriger Bedingungen gerecht zu werden. Für jedes Kind wird vor der Einschulung der individuelle Förderbedarf festgestellt und im Anschluss ein Sprach-Lernplan erstellt. Zurzeit wird in Klasse 1 und 2 fast jeder Dritte in einer Förderklasse mit nicht mehr als zwölf Schülern unterrichtet. Die anderen kommen in „normale“ Klassen, aber mit massenhaft zusätzlichem Sprachunterricht: Vier bis fünf Stunden Deutsch als Zweitsprache (DaZ) pro Woche sind eher Regel als Ausnahme. Finanziert wird der Unterricht mit staatlichen Geldern. „Natürlich ist es eng und man würde immer gerne mehr machen“, sagt Manuela Seidel, „aber es gibt durchaus ein paar zusätzliche Mittel.“
Umsonst gibt es die Mitarbeit der Eltern an der Bildung und Erziehung ihrer Kinder – wenn es gelingt, sie dafür zu gewinnen. Im Sommer vor der Einschulung bekommen die Eltern eine Serie bunter Flyer in die Hand gedrückt. Unter dem Motto „Kann ihr Kind das schon?“ erhalten sie Tipps und Übungen für alles, was man möglichst bei der Einschulung beherrschen sollte: vor- und rückwärts laufen, Schere bedienen, Vier- und Dreiecke, Farben und ein paar Tiere und Pflanzen auseinander halten können zum Beispiel.
Sind die Kinder einmal da, bemüht man sich, sie möglichst lange zu halten. Die Hälfte der Schüler bleibt schon jetzt den ganzen Tag. Ab 2006 ist die Nydahl-Schule eine der wenigen „gebundenen Ganztagsschulen“ in Berlin, dann bleiben alle Kinder täglich von 8 bis 16 Uhr. Damit werde ein völlig neuer Rhythmus von Unterricht, Zusatzangeboten und Freizeit möglich, erläutert Manuela Seidel: „Das macht es den Kindern leichter, sich zu konzentrieren, und hält sie lange in einer deutschsprachigen Umgebung.“ Auch die Eltern seien froh, wenn ihre Kinder ganztags betreut würden. Weil sie dann beruhigt zur Arbeit gehen können? Nein, sagt die Schulleiterin – „von unseren Eltern hat kaum einer Arbeit“.
Um den Tag sinnvoll zu füllen, hat man schon vor Jahren begonnen, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen. Das Leitmotiv heißt „Eine Schule im Stadtteil“ und steht für ein Netzwerk mit sozialen Organisationen und Bildungseinrichtungen. Mitarbeiter und Freiwillige der Liebknecht-Bibliothek am Kottbusser Tor bieten schon im Vorschulalter Sprach- und Lesespiele für die Kinder an. Mit den älteren machen sie Lese-Rallyes, literarische Stadtteilerkundungen und bringen den häufig aus beengten Wohnverhältnissen kommenden Schülern so nicht zuletzt den Lernort Bibliothek nahe. Noch zwei weitere Träger helfen beim Spracherwerb. Andere kümmern sich um den Kontakt zu den Eltern, Anti-Gewalt-Trainings oder Gesundheitsförderung. Auf der langen Liste der Schulpartner stehen zwei arabische Vereine, die Quartiersmanager vom Kottbusser Tor, die Polizei und die Deutsche Angestellten Krankenkasse und CidS (Computer in die Schulen). „Schüler nur zu unterrichten reicht nicht“, sagt Manuela Seidel, „und für alles andere brauchen sie Hilfe von außen.“
Wie schwer es aber auch für Nydahl-Schüler ist, in der deutschen Sprache sicher zu werden, macht ein Besuch in der 5. Klasse deutlich. Winwar stellt ein Buch vor. Eine großartige Übung, sagt die Lehrerin, um die Schüler ans Lesen zu bringen und das freie Sprechen zu üben. Winwar hat „Die Gruselgeister“ gelesen und erzählt es nach, etwas stockend, aber vollständig. Dennoch stolpert er immer wieder über die leidigen Fallen einer Zweitsprache: „fallt“ statt „fällt“ sagt er, „nehmte“ statt „nahm“.
Wer die deutsche Sprache nicht in die Wiege gelegt bekommen hat, ist im Nachteil – und bleibt es auch. Dennoch sind die Chancen auf Kompensation hier besser als anderswo. Jeder vierte der Schüler geht anschließend auf ein Gymnasium.