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Claudius Prößer sucht Karnickel auf der StraßeAn der Chausseestraße vermehren sich nun die Gebäude

Foto: Claudius Prößer

Quer über die Chausseestraße hoppeln sie, dort, wo vor über einem Vierteljahrhundert mal ein Grenzübergang war. Ziemlich lädiert sind die Kaninchen, aber kein Wunder, es donnern ja ständig Autos und sogar Lastwagen über sie hinweg. Einigen fehlen Ohren oder Läufe. Und manche verschwinden einfach plötzlich: hopp und weg.

Wer die in Fahrbahn und Gehwege eingelassenen Messingkarnickel zufällig bemerkt – Radfahrer etwa, die zwischen Mitte und Wedding unterwegs sind –, ahnt oft nicht, was es damit auf sich hat. Er stellt höchstens fest, dass die vielen Baustellen ringsherum die Familie der Hüpfer immer weiter dezimieren. Zum Glück haben die Tierchen eine eigene Website: Auf www.kaninchenfeld.de führt ein Anteil nehmender Anwohner akribisch Buch über das 1999 fertiggestellte Gedenkprojekt. Damals setzte die Berliner Künstlerin Karla Sachse 120 metallene Kaninchen auf dem einstigen Mauerstreifen aus: im Rahmen des Kunstwettbewerbs „Übergänge“, den die damalige Senatsverwaltung für Bau und Verkehr im Jahr 1996 ausgelobt hatte. Die sieben Gewinner durften je einen früheren Grenzübergang mit einer „örtliche Markierung“ gestalten.

Mit den golden schimmernden Symbolen wollte Sachse an einen Nebenaspekt des Alltags in der geteilten Stadt erinnern: Der Todesstreifen war für Kaninchen Schutzgebiet, sie buddelten sich von West oder Ost in den streng bewachten Raum zwischen den beiden Mauern, wo sie sich ungestört vermehrten und auf menschliche bzw. unmenschliche Politik pfiffen.

Nach langen Jahren im Wartestand vermehren sich an der Chausseestraße nun die Gebäude wie die Karnickel, auf die Denkzeichen wird wenig Rücksicht genommen. Zuletzt hat sich die SPD-Abgeordnete Ellen Haußdörfer ihrer erbarmt und eine Anfrage zum Zustand des Erinnerungszeichens an die Kulturverwaltung gerichtet. Staatssekretär Tim Renner gab Auskunft: Bei einer Zählung vor einem Jahr seien nur noch ca. 50 „Kaninchenobjekte“ vorgefunden worden.

An eine Wiederherstellung des Gesamtkunstwerks, so Renner, sei nicht zu denken: „Die Messingintarsien im Fahrbahnbelag der Chausseestraße halten der Belastung durch den Autoverkehr nicht stand.“ Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage sei mal dahingestellt – bei der Inaugenscheinnahme durch die taz wirkte es eher, als halte der Asphalt dem Verkehr nicht stand.

Ob der Senat etwas zur Rettung der Karnickel zu tun gedenkt, geht aus Renners Antwort nicht hervor. Wohl eher nicht, kann man daraus schließen. Er kümmert sich ja noch nicht einmal um den kopfsteingepflasterten Mauer-Gedächtnis-Streifen, der hier unter einem Neubau und einer Tankstellenzufahrt einfach verschwindet. Es sind halt andere Zeiten angebrochen. Immerhin: Wenn Ellen Haußdörfer noch einmal gewählt wird, kümmert sie sich demnächst mal um leidende Kunst im öffentlichen Raum. Versprochen.

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