Chronologie der Walpurgisnacht: Lasst Euch umarmen
am Abend vor dem ersten Mai ist Feiern angesagt in Berlin. In Kreuzberg wird die Dutschke-straße eingewiht. In Prenzlauer Berg wird die Walpurgisnacht zelebriert. Ruhig wie nie. Eine Chronik.
17.00 Uhr, Noch-Kochstraße: Vor dem Verlagsgebäude des Axel Springer AG beginnen die Ehrung für Rudi Dutschke und die von der taz organisierten Demonstration unter dem Motto "Schafft ein, zwei, viele Dutschke-Straßen". Nebenan mäht ein Springer-Mitarbeiter den Rasen. Die Polizei schreitet ein - und untersagt dem Mann, weiterhin die Demonstration zu stören.
17.16 Uhr, Rudi-Dutschke-Straße: Dieser Augenblick sei "eine große Genugtuung", sagt Franz Schulz, grüner Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg. Gerade hat er das erste Rudi-Dutschke-Straßen-Schild enthüllt.
19 Uhr, Rudi-Dutschke-Straße 23: Vor dem taz-Verlagsgebäude spielt die Blaskapelle IG Blech zum Tanz. Plötzlich gibt sich ein Quartett von Springer-Mitarbeitern zu erkennen. Sie schenken der taz-Chefredakteurin Bascha Mika ein Bild-rotes Handtuch. Anschließend genießen sie wie alle das Freibier der taz.
20.45 Uhr, Oderberger Straße: Über dem Mauerpark kreist ein Polizeihubschrauber. Die Straßen: leer; es herrscht Parkverbot, nur wenige Menschen sind unterwegs. Auch im Park ist fast niemand. "Alles ruhig", bestätigt Polizeisprecher Bernhard Schodrowski. Wozu dann der Hubschrauber? "Wir haben uns gedacht, wenn wir schon einen so großen Einsatz mit rund 2.700 Beamten fahren, dann richtig."
20.58 Uhr, Freiluftkino Kreuzberg: Der 1. Mai wird gefeiert, mit der Premiere des Films "1. Mai". Rund 600 Zuschauer machen es sich bequem. Blitzlichtgewitter, als die Schauspieler auftauchen.
21.00 Uhr, Viktoria-Park: Rund 500 Menschen versammeln sich auf dem Kreuzberg. Einige zünden ein Feuer, Polizisten löschen es. Dies wiederholt sich sechs Mal. Dann gibt die Polizei auf und lässt das Feuer brennen.
21.05 Uhr, Oderbergerstraße: Eine sechsköpfige Familie beobachtet, wie vier geparkte Polizeiwannen losfahren, ohne Blaulicht, ohne ersichtlichen Grund. "Look at these policecars", sagt die Mutter. "How interesting", sagt die Oma.
21.30 Uhr, Bernauer Straße: Der Mauerpark ist abgesperrt, es gibt nur einen Ein- und einen Ausgang, bewacht von Polizisten in Kampfmontur. "Bitte 30 Meter weiter da drüben anstellen", weist eine Beamtin die Jugendlichen an. "Da drüben" ist eine 30-Meter-Schlange. Am Eingang dürfen die letzten, die nichts vom Flaschen- und Dosenverbot mitbekommen haben, ihr Bier in Plastikbecher umfüllen.
22.00 Uhr, Freiluftkino Kreuzberg: Im Film mühen sich ein Brandenburger Polizist, der 11-jähriger Yavuz, Anarcho-Opa Harry und zwei Jungs aus der Provinz durch die Wirren des Kreuzberger 1. Mai. Von Randale ist wenig zu sehen.
22.30 Uhr, Boxhagener Platz: Dutzende Wannen stehen rund um den Platz, beleuchten ihn mit Flutlicht. 400 Feiernde laufen etwas verloren herum. In den Kneipen auf der Simon-Dach-Straße ist mehr los.
22.45 Uhr, im Mauerpark: Etwa 700 Menschen stehen herum im hell erleuchteten Park, einige wollen "free hugs" - kostenlose Umarmungen - verteilen. Im kleinen Amphitheater spielen sich Bongo-Trommler in Extase. Die Hänge, von denen vor einigen Jahren die Polizei mit Flaschen beworfen wurde, sind mit rot-weißen Plastikband abgesperrt. Obwohl ein Feuer erlaubt wäre, zündet niemand eines an.
23.00 Uhr, Freiluftkino Kreuzberg: Der Film "1. Mai" bekommt mäßigen Applaus. Die Zuschauer gehen zu ihren Fahrrädern.
23.45 Uhr, Grünberger Straße: Ein Punker rechtfertigt sich für die maue Stimmung: "Die sind alle nach Hamburg gefahren, um gegen die Nazis zu demonstrieren." - "Was für eine billige Ausrede", sagt ein anderer. "Mit der Randalezeit ist es vorbei."
00.55 Uhr, Mauerpark: Bisher ist alles ruhig geblieben, jetzt fliegen einige Flaschen auf Beamte, die ein zu spätes Feuer löschen wollen. Kurz darauf ist das Scharmützel vorbei. Die Polizei spricht von der "friedlichsten Walpurgisnacht der letzten zehn Jahre".
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