Christa PfafferottZwischen Menschen: Kein Mensch darf hingucken, wo er will
Christa Pfafferott
ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Macht-verhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.
Ich liebe Bibliotheken. Es sind Orte, an denen Menschen gemeinsam still sind, während in ihren Köpfen verschiedene Gedanken rauschen. Ich denke dann oft an Wim Wenders’Film „Der Himmel über Berlin“, in dem die unterschiedlichen Gedanken aller Menschen in einer Bibliothek zu hören sind. Diese Energie schafft einen besonderen Raum zum Denken und Lernen. Einen Schutzraum, in dem man ganz in seine Welt versinkt.
Am Morgen fällt mir im Bibliotheksflur ein älterer Mann auf, der alle Schließfächer aufstößt und in sie hineinschaut, als würde er damit eine Aufgabe erfüllen. Dabei blickt er immer wieder zu mir. Ich schaue weg, ich möchte ihn nicht an mich heranlassen. Tagsüber sehe ich den Mann, wie er durch die Bibliothek schleicht. Ihn umgibt eine Unruhe. Zusammen mit einer Bekannten sitze ich an Tischen in einem hinteren Teil der Bibliothek. Der Ort ist verdeckt von langen Regalgängen, hinter denen man ungestört arbeiten kann.
Der Mann kommt immer wieder zu den Tischen, setzt sich, steht auf, schaut herüber. Als ich mich am Abend von meiner Bekannten verabschiede, sitzen nur noch sie und der Mann an den Tischen. „Pass auf, der kommt mir komisch vor“, überlege ich ihr zum Abschied zu sagen und lasse es dann. Ich möchte sie nicht unnötig in Angst versetzen.
Am nächsten Morgen setze ich mich wieder früh in den hinteren Teil der Bibliothek. Ich bin allein. Dann kommt der Mann vom Vortag. Ein paar Tische von mir entfernt bleibt er starr stehen und schaut mich an.
„Ist was“, frage ich.
„Was soll denn sein?“
„Sie schauen mich die ganze Zeit an.“
„Ich darf hinschauen, wohin ich will“, sagt der Mann.
„Und ich darf Sie das fragen“, sage ich.
Er sitzt nun etwa zehn Meter von mir entfernt hinter einem Computer der Bibliothek und lugt immer wieder dahinter hervor. Ich versuche ihn nicht zu beachten. Irgendwann steht er auf und verschwindet zwischen den Regalen. Ich höre Schritte, die sich entfernen, dann wieder Geräusche. Irgendwann ist es ganz still.
Nach ein paar Minuten kommt mir etwas seltsam vor. Ich drehe mich um – und erschrecke. Direkt hinter mir am Bücherregal steht der Mann und starrt auf mich hinunter. Auf seinem Gesicht ist ein Lächeln.
Ich springe auf: „Was machen Sie denn da?“
„Tut mir leid, ich wollte sie nicht erschrecken“, sagt er. „Ich schaue hier nach einem Buch.“
„Alles klar. Und das ausgerechnet direkt hinter mir. Ich werde mich über Sie beschweren“, sage ich. „Und ich beschwere mich über Sie“, sagt er. Dann verschwindet er in den Regalgängen. Ich setze mich, doch ich kann mich jetzt nur noch schwer konzentrieren. Ich blicke mich um, ob er noch hinter mir steht. Der geschützte Raum um mich ist zerbrochen.
Am folgenden Morgen komme ich mit einer Bibliotheksmitarbeiterin von der Ausleihe ins Gespräch. Auf einmal beschließe ich ihr zu erzählen, was am Vortag passiert ist. Sie winkt ab: „Ja, wir kennen ihn. Den mit der Glatze?“ Ich überlege, ob man seine Frisur schon Glatze nennt. „Der ist harmlos“, sagt sie. „Nehmen Sie es nicht persönlich. Bibliotheken ziehen auch Menschen an, die etwas verwirrt sind.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie den gleichen meinen wie ich“, sage ich. Doch sie lächelt. „Er schaut einfach nur gerne. Ich schaue Sie auch gerne an.“ Sie zwinkert, als wollte sie sagen: Jetzt stell dich doch nicht so an.
Als ich weggehe, spüre ich das schale Gefühl, mich jemandem falsch anvertraut zu haben. Indem sie den Mann in Schutz genommen hat, hat sie mir Schutz genommen. Auch wenn es nicht vergleichbar ist, muss ich plötzlich an die Geschichten von Menschen denken, denen Gewalt angetan wurde und die sich absurderweise schuldig fühlen dafür. Als hätte sie selbst etwas falsch gemacht. Nicht die Täterinnen und Täter.
Nein. Es ist nicht richtig. Kein Mensch darf hingucken, wohin er will, wenn dieser Blick belästigt. Es muss öffentliche Schutzräume in unserer Gesellschaft geben, in denen man unbedarft in sich versinken kann. Und Menschen, die an diesen Orten arbeiten, alle, die dort sind, schaffen diesen Schutzraum mit.
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